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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Alleinsein vor dem nächsten Dienst. In dieser Zeit wischte Alda den Kleinsten das Gesichtchen sauber, wickelte sie und vertrat sich mit je einem im Arm ein bisschen die Beine auf dem Patio.
    Später am Nachmittag holte sie die größeren Kinder wieder von der Schule ab und half ihnen bei den Hausaufgaben, übte sich mit ihnen in Stickereien und kleinen Bastelarbeiten.
    Ab und zu verbrachten sie alle auch Zeit gemeinsam auf dem Patio. Dieser bestand aus einem Garten, der nach hinten hinausging, umrahmt von hohen Pinien, in deren Köpfen der Wind nistete, und reich bestückt mit Azaleen, einer Platane, Ginsterbüschen und einer Zypresse in buschigem Durcheinander. Die Erde war rötlich, lehmig, und die Topfpflanzen, die auf dem gekachelten Boden standen, da, wo auch ein Schaukelstuhl wippte, beständig voller Durst. Alda wässerte sie regelmäßig und sorgte dafür, dass Geranien und allerlei Hänge- und Kletterpflanzen üppig blühten.
    Mühsam war lediglich, den Spatzendreck und die Exkremente der unzähligen Tauben wegzuschrubben, die Terrakottaplatten waren zwar unverziert und daher flach, aber dennoch blieben unschöne Flecken darauf haften, wennAlda nicht ihr Bestes gab. Trotz der Mühsal hatte sie ihre Freude daran, wenn ab und zu ganze Schwärme von grünen Vögeln, Papageienartigen, über ihr Stück Himmel rauschten. Gotorras, nannte sie el doctor, eine verwilderte Art – und hatte damit gleichsam wieder einmal zum Ausdruck gebracht, wie sehr er alles Maßlose verabscheute. Alda aber blieb stet, und Alda machte weiter. In ihrer dünnen, schmalen, rechtsfälligen Schrift notierte sie in ein neues Heft über die
Geistige Erziehung:
     
    Erziehen heißt, absichtlich und planmäßig auf die geistige Entwicklung eines jungen Menschen einzuwirken und seinem Geiste und Charakter ein bestimmtes Gepräge zu geben, ihn zu einem bestimmten Ziel zu bringen.
     
    Sie überlegte. Dann erinnerte sie sich:
     
    Erstens durch Anlage. Zweitens durch absichtliche Erziehung. Drittens durch Einwirkung der Umwelt (Familie, Kameraden, soziale Verhältnisse, Zeitgeist etc.) und viertens durch direkte Einwirkung.
     
    Wenn sich hier schon niemand anderer für ihre Bildung zuständig fühlte, dann würde sie das eben selbst übernehmen. Auch durch Repetition aus dem Gedächtnis konnte man Wissenslücken stopfen, wie eine Socke, die löcherig geworden war, auch nicht unbedingt nach neuem Garn schrie, sondern sich mit alten Fäden zu begnügen wusste. Wenn sie nur richtig miteinander vernäht wurden. Aber dazu würde Alda schon schauen. Aufgeben war für sie keine Option.
    Ein paar Seiten weiter hinten widmete sie sich verträumt der Kinderseele und notierte:
     
    Kenntnisse der Kinderseele. Gleich wie der Uhrmacher das Werk der Uhr und der Arzt den Bau des menschlichen Körpers kennt, muss der Erzieher die Seele seines Zöglings kennen. Es gehört dazu dreierlei.
     
    Alda schaute sich im Raum um. Sie brauchte etwas, das sie als Lineal benutzen konnte. An der Wand hing ein langer Krummsäbel, sein Griff war schmal und gerade. Vorsichtig behändigte sie ihn und legte ihn quer über das Heft. Mit angehaltenem Atem zog sie eine Linie unter
»dreierlei«.
Dann brachte sie den Säbel an seinen Platz zurück und setzte sich wieder hin.
– Kenntnis der menschlichen Seele (Psyche) überhaupt.
– Kenntnis der Kinderseele im Allgemeinen.
– Kenntnis der Persönlichkeit und Eigenart des in Betracht kommenden Zöglings.
    Die Psychologie im Allgemeinen lernt man sowohl durch das Studium des eigenen Seelenlebens als durch dasjenige anderer Menschen, und unter den anderen kommen wieder in Betracht solche, mit denen wir selten in Beziehung kommen, und solche, von denen uns andere erzählen oder berichten (Gestalten der Bibel, der Weltgeschichte, der Literatur).
     
    So ging es weiter. Abend für Abend, Seite für Seite. Vom
Umgang mit traurigen Kinderherzen
über
die wichtigsten Regeln für die intellektuelle Erziehung
bis hin zum Spiel des Kindes. Als Alda ihr zweites Heft vollgeschrieben hatte, bat sie den Hausherrn darum, ihr ein drittes mitzubringen. Was dieser tat, jedoch war es nun ein Heft ohne Linien. Konnten Linien etwas Maßloses sein?
    Gleichviel. Alda holte sich besagten Krummsäbel noch einmal von der Wand und linierte das ganze Heft von vorne bis hinten durch. Dann setzte sie den Griffel an.
    Unter dem Titel
Kleine Sammlung erster Versuche
schrieb sie:
von Esmeralda Immer, genannt Alda, geschrieben 1929 in Barcelona und gewidmet

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