Die Ruhelosen
angeschrieben werden. Die Preise, so man sie nicht kannte oder in Vaters Listenbuch nachschlagen konnte, hatte man eigens bei ihm zu erfragen, Stück für Stück. Eine Sisyphosarbeit sondergleichen. Mondaine hasste sie. Noch schlimmer war einzig der Tag im Jahr, an dem Vater die Türe schloss und das Pappschildchen anbrachte mit dem unheilvollen Begriff
Inventur
. Vater wollte keinen Commis, alles, alles musste er alleine machen, nur um darüber schimpfen zu können. Natürlich machte Vater aber gar nichts alleine. Mutter half, bis sie halbtot ins Bett fiel, und auch die Kinder wurden früh zu Gehorsam und Mithilfe im Betrieb angehalten. Franzens Rachitis und sein momentaner Erholungsaufenthalt in einem Internat an der Französischen Rivièra bedeutete für die Mädchen, dass sie nun für drei arbeiten mussten. Und wie lange das dauern würde, bis ihr Bruder wieder zurückkäme, wusste keine der beiden. Darüber sprach man nicht im Hause Schön, darüber wurde geschwiegen.
Der Vater beäugte sie, wie sie wortlos die Köpfe zusammensteckten, sich zwischen den Gestellen und Tablaren, den Vitrinen und Schaukasten gegenseitig nie zu lange außer Sicht geraten ließen, wie sie einander halfen, die richtigen Preise im Listenbuch zu finden und wie die Größere der Kleineren die Zerstäuber und Puderdosen fürsorglich aus den Händen nahm, auf das Schemeli stieg und für sie die teuren Luxusgüter in der Höhe bei den anderen versorgte.
Mondaine. Seine Mondaine. Sie hatte seine enge, steile Stirn geerbt und eine Kraft, die ihn eines Tages herausfordernwürde. Im Gegensatz zu ihr war Mausi schlaff. Aber sie gehorchte wenigstens. Wie die nun aussah, mit ihrem Bubischnitt. Mondaine hatte ihr Haar zwar bravourös der herrschenden Moderichtung angepasst, ein geschicktes Händchen hatte sie, aber bei Mausi war das alles doch vergebens. Ihr Kopf war einfach zu groß, zu rund, im Hirn war sie so dumm. François schaute etwas genauer hin. Für das Schandfoto müsste man wohl ein, zwei Wochen warten, bis die dunklen Male abgeklungen wären. Oder bis Theaterschminke das meiste abzudecken vermochte. Aber auf diesem Bild würde er bestehen müssen. Diese graue Maus sollte ein für alle Mal begreifen, dass die Moden dieser Welt für andere, nicht für sie, da waren.
selbst ist die Frau
Barcelona, 1929–1930
Ganze 118 Hektaren waren bepflanzt, bebaut, bebildert und bevölkert, im Palau National an der Avinguda de la Reina María Cristina glänzte eine Ausstellung von über 5000 Objekten, zusammengetragen und herbeigeschafft aus Kirchen, Museen und Privatsammlungen, spanische Kunst vom Feinsten, 14 europäische Nationen waren vertreten und grad ebenso viele außereuropäische, 1714 Aussteller postierten total 12 900 Exponate während rund acht Monaten vom 20. Mai 1929 bis zum 15. Januar 1930, und Alda Immer sah kein Einziges davon.
Die Weltausstellung, die in den Parks und an den Hängen des Montjuïc über die Bühne ging, hätte ebenso gut ein Traumgespinst sein können, nackte, durchsichtige, lügenhafte Imagination eines Phantasten, soweit es Alda anbelangte. Die ganze weite Bildungsreise hierher: umsonst. Die Tür nach einem möglichen Draußen blieb ihr bis auf zwei Ausnahmen verschlossen: den Schulweg der Kinder und den wöchentlichen Gang ins Kirchenschiff. Damit hatte es sich. Von Barcelona würde sie jedenfalls nichts zu sehen bekommen, so viel hatte sie begriffen. Weder die Zahnradbahn noch die Straßenbahn, keine Metro und auch keine hölzerne Rolltreppe, keine Aussichtsplattformen. Nichts.
Der hohe, schmale Flur teilte die feudale Wohnung in zwei Welten. Da waren auf der rechten, vorderen Seite, die sechs großen Zimmer sowie hinten das Bad für die Herrschaften. Und dann, auf der Gegenüberseite des Lebensund der Lebendigkeit die Küche, ein Klo und drei kleine rückwärtige Kammern für das Personal. Einzig zusätzlich erlaubtes Wander- und Erforschungsgebiet während ihres Au-pair-Jahres bei der Arztfamilie el doctor Guillerm Pujal Sobrequés in Barcelona war der Patio, der Hinterhof gegen Süden hin. Sonst nichts. Nichts, nichts, nichts.
»Kein Schritt abseits des Weges! Du bringst die Kinder zur Schule, und du holst sie wieder ab. Wenn ich auch nur von einer einzigen Verfehlung höre, wenn ich auch nur eine einzige Verfehlung ahne, sind deine Tage hier bei uns gezählt«, hörte sie seine mahnende Stimme in ihrem Ohr dräuen.
Im Ganzen fünf Kinder hatte sie zu beaufsichtigen, Zwillinge von sechs Jahren,
Weitere Kostenlose Bücher