Die Ruhelosen
Rechtsanwalt Glaettli schon lange nicht mehr. Ihn wunderte viel eher, wie man ohne Geld in diesem Lande auskommen konnte. Und was ihn an diesem durchzogenen Abend des 1. August 1932 noch viel mehr gewundert hatte, weil es eben schon sein ganzes Leben lang eine Frage war, die er nicht hinunterschlucken und vergessen konnte, war: wie es sich wohl anfühlte, selber etwas Gesetzeswidriges zu tun. Noch nie hatte er sicheines Vergehens schuldig gemacht, keinen Knopf je gestohlen und keinen Weg betreten, vor dem »Für Unbefugte verboten« stand. Und jetzt, am Ende seiner rühmlichen Berufskarriere, allein, frau- und kinderlos, wollte er es wagen und sich dieses Vergnügen des Tabubruchs erlauben. Den Zeitpunkt hätte er nicht besser legen können.
Die Witterung machte mit, den ganzen Tag über war der Himmel bedeckt gewesen und regnerisch, es hatte Schauer in den frühen Morgenstunden gegeben und kurz am Nachmittag um 15.30 Uhr; seither war es trocken. Das Thermometer zeigte um 7.30 Uhr bereits 19,3 Grad, um 13.30 Uhr 22,4 Grad und jetzt, um 21.30 Uhr, waren es wieder angenehme 19,6 Grad.
Der Scheiterhaufen für Glaettlis persönliches 1.-August-Feuer machte einen krüppeligen Eindruck, bucklig und schräg ragte er in Rechtsanwalt Glaettlis Garten auf. Er hatte dazu eigens Bürdeli und Stecken ineinander verwoben und gesteckt, hier noch ein Scheitli, da noch ein Büschel, und dazwischen hatte er hüpfend, fast wie Rumpelstilzchen, Hunderte von Aktenmappen geschoben, liederlich und nachlässig zwischen die Hölzer gequetscht, so dass vereinzelte Blätter durch den Nachtwind auf und davon segelten. Als sein Werk vollendet war, fühlte Glaettli eine Befriedigung wie schon lange nicht mehr. Völlig losgelöst und keinen Tag seiner jahrelangen Erschöpfung spürend, die die Häme so manchen Staatsanwalts über ihn gebracht hatte, ließ er sich das verbotene Gesöff über ein Stückchen Würfelzucker ins Gläslein sickern und langte nach einer Akte vom Packen, der noch übrig war. Dann ließ er die Schallplatte laufen, und er begann, nostalgisch gestimmt, in der Akte zu lesen.
Spruchbuch
Bezirksgericht Zürich
Prozess Nr. 728/1921/5. Abteilung
Das Gericht hat in seiner Sitzung vom 25. Mai 1921, an welcher teilnahmen die Bezirksrichter: Vizepräsident Hubacher, F. Fehlmann und Dr. Lütolf, sowie Gerichtsschreiber H. Sommer in Sachen der Bezirksanwaltschaft Zürich, Bureau 14, a. o. Bezirksanwalt Dr. v. Silvestri, Anklägerin sowie des Centralkomitees der Zünfte Zürichs, Geschädigten, vertreten durch Staatsanwalt Hösli, Zürich 1, gegen
1. Jeremias St yge r, geb. den 11. Januar 1884 in Konstanz, von Richterswil/Zch., Sohn des Antonius und der Annalina, geb. Abplanalp, verheiratet mit Lilly Ehrsam, Schlosser und Stadtrat, zweimal vorbestraft, wohnhaft Gletscherstraße 4 in Zürich 8,
… ah! Da war es ja, das Urteil über diesen Stygersohn und elf weitere. Mitläufer, Gesinnungslumpen, Sympathisanten, angeklagt betreffend böswilliger Eigentumsschädigung. Glaettli las.
Am 11. April 1921, am Tage des Sechseläutens, hat der 14-jährige Moritz SUTER, Sekundarschüler, Grütlistraße 88 in Zürich 2, vorsätzlich & widerrechtlich, jedoch ohne Erregung einer gemeinen Gefahr, das Eigentum des Zentralkomitees der Zünfte Zürichs dadurch geschädigt, dass er den
diesem Verein gehörenden, auf dem alten Tonhallenplatz in Zürich errichteten Holzhaufen anzündete und dadurch gewollter Weise auch die auf dem Haufen stehende Schneemannsfigur zum Verbrennen brachte, sodass dem besagten Verein ein Schaden von Fr. 830.– entstund.
Dadurch hat sich der Sekundarschüler SUTER schuldig gemacht der böswilligen Eigentumsschädigung im Betrage von Fr. 830.– im Sinne von (Art) 187 lit.b des Str. G. B.
Stimmt. Das war ja seinerzeit dieser Bub gewesen, ansonsten unbescholten, nie negativ aufgefallen. Und von diesem Stygernarr zum Streich verleitet. Hier, hier stand es:
1). Der angeklagte
STYGER
war bei dieser Straftat in folgender Weise beteiligt:
Am Freitag, dem 8. April 1921 fand im großen Saale des Volkshauses Zürich eine Versammlung der Arbeitslosen statt, welche von Styger geleitet wurde. Nach Beendigung dieser Versammlung forderte Styger etwa 20 beherzte Leute auf, zu ihm heranzukommen. Er machte diesen Leuten – es befanden sich zur Hauptsache die unten zu behandelnden Angeklagten dabei – den Vorschlag, am Montag den Bürgerlichen den »Böögg« anzuzünden.
Er ordnete an, dass die
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