Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
damit in Ruhe zu lassen. Man vermutete einen Ehezwist unter den beiden Panthern, sicheres Zeichen, dass das Männchen zu seinem Recht und der Zoo zu seinem Nachwuchs kommen sollte. Gut so.
    Die Tage vergingen, man fütterte die Neue, auch wenn sie nicht immer alles auffraß, was man ihr hingeworfen hatte. Nach wiederum einer Woche kam eine weitere Verletzung dazu, ihr Hinterlauf blutete. Aber noch immer sah man das Tier kaum je in Bewegung. Es hockte da, die Beine unter dem Körper gespannt, mit einem leichten Wellengang, der ihm über das Nackenfell und den Rücken fuhr, und harrte.
     
    Ohne ein Geräusch zu verursachen, sprang die Katze eines Nachts senkrecht das Stahlgitter hoch und zwängte sich durch eine Bruchstelle im Maschengeflecht des Deckengitters.Ihre Tatzen hinterließen scharfe Kratzspuren auf dem Laufbrett, und sie verlor Blut. Sie vermied die Lüftungsklappe, die zu den Ventilationsstollen führte, und das Drücken und Kneifen und Zerren ignorierend, quetschte sie sich durch das Ventilationsfenster, das in jener Nacht leicht offen stand. Keine weiteren Spuren hinterließ sie, als sie vom Dach heruntersprang und in der Nacht- und Tagwende des 10. auf den 11. Oktober 1933 in den Stadtwaldungen Zürichs verschwand.
    Erstes Herbstlaub lag auf dem Boden, noch baumfeucht und kaum knittrig. Ein paar Sprünge, dann duckte sich das Weibchen und machte wieder keinen Laut. Über ihren Rücken rollte das Fell, und sie biss sich verärgert in die Haut. Nichts. Kein Menschengeruch, der ihr folgte. Die Erregung in ihr wollte sich nicht legen, ihr Herz raste. Ohne einen Plan oder auch nur die geringste Fährte, die ihr einen Weg gewiesen hätte, begann sie eine Pfote vor die andere zu setzen und auf schmalem Pfad, den Boden kaum berührend, durch den Wald zu traben. Ihr Rücken war geduckt, und ihr Kopf schwenkte gehetzt hin und her; jeder Laut war ihr fremd, und die Gerüche waren alle so verwirrend, auch hier.
     
    Am ersten Tag fraß sie Insekten. Sie plünderte ganze Nester im Eichenholz, züngelte nach dem Borkenkäfer in umgestürzten Fichtenstämmen und schnappte sich den nächtlichen Sägebock im Flug. Am zweiten Tag hatte sie Glück und erwischte eine Blindschleiche, unkonzentriert nagte sie auf den Hornschuppen herum. Aber dieser zweite Tag war auch der Tag ihres größten Schreckens, als sie nahe Menschen roch und einer Meute Suchhunde entkommen musste. Sie rannte, so schnell sie rennen konnte, wich den verstörenden Gerüchen und Geräuschen aus und sprang hoch hinauf auf einen Baum. Hier fand sie für eine kleine Weile Rast. Die Vögel waren alle verstummt. Der ganzeWald lag still. Sie kam zur Ruhe und bettete ihren Kopf auf die Vorderpfoten.
    Erst ein Knacken schreckte sie auf. Heimlich ging eine Rehgeiß daran, an einem dünnen Baumstamm Äste abzunagen. Mit einem Satz war das Pantherweibchen unten und riss das Tier. Der Bauch war bald verschlungen. Der Hunger getilgt. Sie scharrte ein paar Blätter und Ästchen über den angenagten Rumpf und Kopf der Beute. Dann knurrte sie leise und trottete davon.
    Mit der Zeit gewöhnte sie sich an den moosigen Untergrund und daran, einen fremden Wind in fremden Baumkronen nach Blättern langen zu hören. Ein toter Hase, der vor seinem Bau lag, ein plattgedrückter Maulwurf, Käfer, Larven, hohes Gras, sie fraß, was ihr zwischen die Zähne geriet. Und hielt sich so am Leben.
     
    Aber der Hunger kam. Und mit ihm, wie auf leisen Schattenpfoten, die Unvorsicht. Blitzschnell duckte sich die Katze und schielte in Erdnähe in ein Dickicht. Ein dumpfes Knurren rollte ihr entgegen, und sie rannte mit weit ausholenden Sätzen davon, bis sie nicht mehr rennen konnte. Als sie das Knurren schon längst nicht mehr hörte, rollte es noch immer über ihren Rücken hinab.
    Es nieselte. Ihr Fell juckte. Die Tropfen glänzten auf ihren schwarzen Haaren, und die Gerüche vermengten sich. Angestrengt blieb sie unter einer Buche stehen und witterte. Sie hatte den Weg verloren.
    Dann wusste sie es wieder, sie war auf der Suche nach ihren Jungen. Sie war auf der Flucht.
    Unbekannte Laute und bösartige Gerüche schreckten sie auf. In allem witterte sie Gefahr. Ihre Schreckhaftigkeit bewog sie dazu, nur noch das zu fressen, was sie ohne Anstrengung vorfand. Einen Eichhörnchenkadaver, Käfer, einen Laubfrosch. Sie nagte unschlüssig an Baumrinde herumund trabte von hier nach da und wieder zurück, überprüfte ihre eigene Fährte, markierte sich einen guten Aussichtspunkt und trottete

Weitere Kostenlose Bücher