Die Ruhelosen
Dokumenten.
Mein Gott, ja, sie hatten diesen Fall noch weitergezogen, diese Lumpen und Vaganten, und man hat ihnen dann eben doch noch »bewusste Bosheit« und »ungezügelten Mutwillen« nachweisen können.
Da hatte alles nichts geholfen, da hatte er schön versagt, er, der Glaettli, dabei wollten diese Arbeitslosen den Zürcher Zünften nur einen Streich spielen, einen Nachtbubenstreich, mehr war das nicht, und gerade dieser Styger, war der nicht eine Waise gewesen? Hatte der nicht noch irgendwo zwei Schwestern gehabt, die verdingt worden waren in der Innerschweiz? Auf alle Fälle war der ja völlig auf sich alleine gestellt und herrenlos, wechselte seine Arbeitsstellen häufiger als ein Durchschnittspolitiker seine Meinung, auch wenn er es zuerst noch geleugnet hatte auf dem Polizeiposten, auch wenn er den armen Knaben Suter damit ganz arg in die Bredouille gebracht hatte, er, der Styger, war ja eine nicht minder arme Sau gewesen, in jeglicher Hinsicht.
Das war doch eigentlich eine bis zu einem gewissen Grade entschuldbare Verstimmung gewesen, aus der heraus Styger zu dieser läppischen Tat gerufen hatte. Und, nein, dass der Präsident des Komitees ausgerechnet selbst ein Staatsanwalt war, damit hatte Styger ja nicht rechnen können. Das waren noch Zeiten. Und doch ist alles immer weiter seinen Lauf gegangen. Man verbrennt noch immer Jahr für Jahr den »Böögg«, diese Witzfigur auf Stelzen, und die Zunftherren galoppieren auf ihren Gäulen besoffen darum herum.
Ein letztes Mal blätterte Rechtsanwalt Glaettli die Aktedurch, dann stopfte er auch sie zwischen die Bretter und das trockene Moos.
»Auf dann, in mein zweites Leben!«, prostete er sich selber zu, warf das Petrol aus dem Kessel hoch hinauf und zündete mit einem Streichholz die Scheiterbeige an.
Teil 4
Selbsterhaltungstrieb. 1933–1964
Selbst- und Arterhaltung ist alles. Nichts kommt dieser Aufgabe an Wichtigkeit gleich. Die dafür geschaffenen Triebe sind die stärksten, heftigsten.
die Flucht
irgendwo in den Wäldern des Kantons Zürich, 1933
Man hatte ihr die Jungen weggenommen. Man hatte sie in eine Holzkiste verfrachtet und hierhergebracht. Man hatte sie zusammengesteckt mit einem anderen, der hinter Gittern nervös hin und her patroullierte. Man hatte sie alleingelassen.
Sie war ein Schwärzling, ein Wildfang, der am 22. September 1933 via Tierhandlung Ruhe in Hannover ohne Papiere in die Schweiz gelangt war, ein nobles Tier edler Gestalt. Ihr Fell glänzte wie ein Meer schwarzer Tränen, ihre Augen leuchteten nicht nur, wenn man sie im Dunkeln sah. Man wusste nicht genau, woher sie stammte, kam sie aus Borneo oder Sumatra, Afrika oder Persien, oder hatte man sie auf dem indischen Festlande erbeutet – aber sie passte ganz ausgezeichnet zu dem anderen schwarzen Panther, zusammen würden sie für die neue Attraktion des Zürcher Zoos sorgen. Nach der Zoorestaurant-Eröffnung war schon ein Jahr ins Land gezogen, höchste Zeit also, das Publikum mit einem weiteren Zückerchen zu locken. Zumal auch für die Dromedargespanne, die durch die Innenstadt geführt wurden, das Publikumsinteresse nachzulassen begann. Kaum auszumalen, was das für einen Andrang geben würde während der Fütterungszeiten! Und wenn man dann im nächsten Frühjahr mit einem Segen von Jungtieren beglückt würde, könnte man wohl bald schon weiter ausbauen. Der Zürichberg bot dazu Platz genug. Man könnte wieder Anteilscheine an geneigte Zoobesucher verkaufen, der große Reibach wäre damit zwar nicht zu machen, aberfür weitere Anschaffungen wäre doch gesorgt. Ganz abgesehen davon, dass man den Nachwuchs verkaufen könnte, wie viel wird heutzutage eigentlich geboten für junge Großkatzen? Vielleicht wären ein paar davon ja wieder schwarz. Und in seltenen Glücksfällen hat man auch schon von weißen gehört, kaum auszudenken, was das für den Zürcher Zoo bedeuten könnte …
Als das Licht am Morgen im neuen Raubtierhaus anging, gab es durch den Körper des Pantherweibchens einen Schlag. Ihr Fell rollte nervös auf und ab, und sie fing an, sich unkontrolliert zu lecken. Aus ihrer Ecke im Innengehege kam sie so gut wie nie. Sie drückte sich gegen Boden und Wand und kümmerte sich anscheinend nicht darum, dass die Verbindungstüre nach drüben zu dem anderen täglich geöffnet wurde. Den Menschen, die sie anschauen kamen, wich sie mit ihren Blicken aus.
Nach einer guten Woche stellte man eine Verletzung der rechten Vordertatze fest, beschloss aber, das Tier
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