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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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einem so jungen, so selbstbewussten Mädchen, und ließ sie anstandslos passieren. Auf diesen Flügeln eroberte Mondaine die Welt – und sie glaubte, ihr ganzes Leben immer gerade so weiterzufliegen.
    Als sie nachmittags gegen vier ihren Vater suchte, fand sie diesen in einer der hölzernen Telefonnischen, wie er eifrig sein Geschäft vorantrieb. Sie machte ihm ein Zeichen, dass der Fünfuhrtee mit Tanz demnächst beginnen würde, und spazierte locker auf und ab. Über ihren Schultern kringelten sich die Locken, und das hellblaue Kostüm stand ihr außerordentlich gut, wie sie fand, als sie sich inder großen Glastüre, welche das Hotel mit dem Badetrakt verband, begutachtete. Sie mochte nicht warten, also winkte sie ihm hastig mit ihren Handschuhen zu und trabte die breite Treppe hinunter. Ein Anschlag verkündete, dass am folgenden Tag um drei Uhr nachmittags Madame India einen Vortrag über fernöstliche Körperkunst und Bewegungspraktiken halten würde, und Mondaine strahlte einen ihr wildfremden Mann an, der zusammen mit seiner Frau und einem Heer von Kofferträgern gerade erst angekommen war: »Ach, ist Reisen nicht schön? Ist es nicht einfach aufregend und wunderherrlich schön?«

ein süßes Geheimnis unter dem Busen
    Küsnacht, 1932
    Als Alda Senigaglia ihre Vermutung bestätigt fand und damit endlich ihre erste Schwangerschaft verkündete, schwoll Nunzios Bauch unvermittelt an. Das Übel dauerte jedoch nur zwei Wochen. Zum Glück.

endgültig Feierabend
    Zürich, 1932
    Seinen gerechten Ruhestand wollte Rechtsanwalt Dr. H. P. Glaettli mit einem großen 1.-August-Feuer einläuten. Von seinem neu angeschafften Gerät, einem Plattenspieler mit Elektromotor, sollte es munter Ben Hokeas
Hawaiian Nights
klimpern, und auf dem gusseisernen Gartentischchen warteten bereits der silberne Löffel, das Reservoirgläschen und eine köstliche Flasche der Grünen Fee auf Rechtsanwalt Glaettlis persönliche Grüne Stunde. Das Konsumieren von Absinth war genauso verboten wie das Entfachen eines offenen Feuers am Waldhang des Zürichbergs. Glaettli wusste das, wusste das nur zu gut, und war selbst schon ganz entflammt, lodernder Pfahl beim bloßen Gedanken an so viel Ungehörigkeit. Wie viele ungezählte Jahre hatte er sich als Verteidiger für Glünggis, Galööris und Ganoven eingesetzt, um ihre kleinen oder großen Verbrechen nicht in allzu drakonischen Strafmaßen münden zu lassen. Wie oft hatte er sich nicht belügen und betrügen lassen müssen durch diese Geschöpfe, die die Gesellschaft in den letzten Jahren immer häufiger und rasanter und rücksichtsloser ausspie und die ja doch nur im Halbschatten derselben gedeihen konnten. Man ließ ihnen ja sonst keinen Platz, nicht da, wo Licht gewesen wäre, da nicht. Die Gesellschaft war ganz einfach zweigeteilt. Und er stand auf der Sonnenseite. Wie ungerecht. Nie hatte er einem wirklich wieder auf die Beine helfen, oft nur einen kleinen Schubs geben, einen Impuls vermitteln können, auf dass er eine Weile brav im Takt und in der Rille laufe wie die Nadelauf der Schellackplatte, aber immer wieder kam es doch zu neuen Entgleisungen und Abstürzen – als ob die Schweizer Gesellschaft eine Gesellschaft der Gebirge wäre, eine mit Höhepunkten, die nur ganz wenige erreichten, und zugleich eine mit Gletscherspalten, in denen noch so mancher unbeachtet verschwand. Und nie mehr daraus hervortauchte. In unregelmäßigen Abständen hatte es ihn gewundert, was wohl aus diesem oder jenem geworden war. Ob doch noch etwas aus ihm geworden war. Zum Beispiel aus dem einen, der in einer Schülerzeitung einen Professor verunglimpft hatte und der deshalb von demselben Professor wegen Rufschädigung verklagt worden war. Oder dann dem Mann mit den zwei Frauen, die nichts voneinander wussten. Oder dem Witzbold Styger, der eines Tages auf die gloriose Idee gekommen war, den Umzug der Zünfte und deren Galionsfigur zu sabotieren, diesen blöden gebastelten Schneemann, den Zürcher Böögg, den man alljährlich zur Vertreibung des Winters in Flammen aufgehen ließ, nur damit heißa heißa die Vertreter der Zürcher Zünfte ihren Auftritt hatten, ihre geschönten Gewänder zur Schau stellen konnten. Beim Umzug hoch zu Ross die mindere Gesellschaft in ihre Schranken verweisen konnten. Denn darum ging es doch damals und geht es heute noch. Diese Anmaßung, etwas Besseres zu sein, nur weil man einer Zunft angehörte, weil man von altem Adel war oder Geld besaß.
    Aber Geld, das interessierte

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