Die Ruhelosen
eine Weile Zeit verstrichen war, nickte sie endlich. Sie sagte: »Aber dann soll das Kind drei Namen haben. Zuerst einen neuen, einen ganz, ganz eigenen wie Lorine, einen, der nur ihr gehört, und dann von mir aus zwei von ihren Vorfahrinnen, wenn es unbedingt sein muss.« Emma füllte ihre Lungen mit neuem Atem, dann sagte sie: »Aude Malka Esmeralda Senigaglia.«
Nunzio schaute auf das Kind, als er sagte: »Lass mal überlegen. Das ergibt als Initialen AMES. Französisch für Seelen. Doch, ja. Wieso nicht. Aude also?«
»Aude.«
Draußen schien die Sonne. Es war ein warmer Augusttag, der sich allmählich dem Abend zuneigte. Die Vögel sangen aus voller Kehle, und ihr Gesang drang durch das leicht geöffnete Fenster in das karge Zimmer herein, wo er in der Luft wie eine Girlande hängenblieb und weiterschwang.
Es hatte etwas Tröstliches.
Überfremdung
Forch, 1974
Dass etwas mit ihr nicht stimmte, merkten sie bald. Aude sprach nicht, und wenn, dann nur sehr leise. Sehr selten. Und sehr bestimmt. Zumeist gebrauchte sie ihre größere Schwester, Lorine, als Sprachrohr. Flüsterte ihr ins Ohr, was sie gesagt haben wollte, und überließ der Großen das Sprechen vor Leuten. Oder sie schrieb ihre Mitteilungen im Imperativ auf kleine Zettelchen. Ausnahmen waren kurze Gespräche mit ihren Eltern, die aus einsilbigen Botschaften bestanden oder aus knappen Antworten, die sie wie wütende kleine Eruptionen ausstieß. Allenfalls noch ein hingeflüstertes Bonjour für Omama und Opapa, aber das war das Höchste der Gefühle. Mehr war nicht drin. Nicht bei Aude. Nie hätte sie sich Fremden gegenüber geöffnet, und auch nicht mit Nachbarn, einer Verkäuferin, einer Bedienung im Restaurant gesprochen. Ihre Freundinnen aus der Umgegend kannten diese Eigenheit und ließen sie damit in Ruhe. Wer brauchte schon Worte, wenn man so eindeutig mit Blicken sagen konnte, was man zum Ausdruck bringen wollte? Also.
Aber Emma machte sich eben Sorgen. Vielleicht war die Wahl der Freien Volksschule doch nicht das Beste gewesen? Vielleicht …, aber man konnte das Kind ja auch nicht zwingen, den Mund aufzumachen, auch in einer Staatsschule nicht. Das wäre ja einer Folter gleichgekommen, und Emma schauderte in dumpfer Erinnerung an eigene, nur halb verdrängte Korrekturerfahrung.
Wie Aude den Mund verzog, wenn sie merkte, dass manmit ihr nicht zufrieden war … so quälerisch selbstdarstellend, anklagend. Vielleicht hatte Nunzio ja recht, und das Ganze war nur eine Frage der Zeit. Immerhin hatte er ihr mit fünf Lesen beigebracht und Schreiben. »Wenn sie nicht spricht, sind Bücher der beste Weg hinaus in diese Welt«, hatte er gesagt und sich immer wieder mit ihr hingesetzt, die stumm ihre Lippen bewegt hatte und mit glänzenden Äuglein die Buchstaben in ihr Hirn aufgesaugt, wo sie sie in einem Setzkasten ordentlich versorgt hielt.
Emma hatte es schon bemerkt, wie sie seither, wenn sie hinten im 2CV saß, den Kopf nach links und rechts drehte bei jedem Reklameschild, das sie sah. Sie las Esso, sie las Aral. Sie las Coop, und sie las Migros, und plötzlich, heute Morgen, hatte sie aufgejuchzt und ganz aufgeregt der Mutter gesagt: »Aral ist Lara, Lara ist Aral!« Lara war der Name eines der Hunde, die sie hatten. Emma hatte eine Weile gebraucht, bis sie begriff, wovon Aude sprach, was hatte eine Tankstelle schon mit einem Collie zu tun, aber dann war ihr ein Licht aufgegangen, und jetzt wollte sie ihrem Mann davon erzählen. Aude hatte zum ersten Mal ganz von sich aus gesprochen und sich sogar richtig glühend darüber gefreut!
Sie ließ Aude im oberen Stock mit der Kügelibahn spielen, die sie von ihrer Großmutter aus Küsnacht, von Alda Senigaglia, geschenkt bekommen hatte, und ging die Treppe hinunter in Nunzios Büro. Wie üblich ratterte der Telex.
Auf schweren Holzmöbeln stapelten sich Belegexemplare des Spiegels, Archivmaterial, Notizblöcke, Mikrofilmdosen, verschiedene Kameras, Nunzios alte »Wurmbüchse«, eine Pentax Asahi mit zwei zusätzlichen Objektiven, die ganze Ausrüstung, die Nunzio stets mit auf seine In- und Auslandsreisen nahm, und Bücher, Zeitungen, Nachrichtenmagazine aus aller Welt.
Seit einigen Jahren lebten die beiden eine lakonische Ehekameradschaft, die auf gegenseitigem Respekt und dem Vertrauen basierte, dass der eine nichts unternehmen würde, was den anderen verletzen oder kompromittieren könnte. Emma arbeitete noch immer als Maskenbildnerin, nun aber als regelmäßige Aushilfe am Zürcher
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