Die Ruhelosen
Opernhaus, drei oder vier Abende die Woche, und sie hatte, nachdem sie die Schweizer Vorausscheidung vom 24. Januar 1974 zur Teilnahme am Concours Eurovision de la Chanson nicht für sich hatte entscheiden können – mit einem zwar sehr schönen, aber halt auch sehr französischen, sehr altmodischen Chanson, das über die Wellen des Meeres und der Liebe plätscherte und wogte, war sie nur auf Rang sechs von insgesamt acht gelandet und musste den Sieg ihrer Konkurrentin Piera Martell mit
Mein Ruf nach dir
überlassen, welche dann in Brighton aber ganz grauenhaft auf den letzten Platz verdonnert worden war, zusammen mit Deutschland, Norwegen und Portugal, ein kleiner trotziger Trost das, aber eben auch nicht mehr als das –, der professionellen Singerei endgültig Adieu gesagt. Gewonnen hatte irgendeine Gruppe aus Schweden, eine Viererformation, mit einem derart schnellen, derart unverständlichen Herumgehopselied,
Waterloo
, dass Emma geahnt hatte, hier bricht eine völlig neue Ära an, der gute alte Schlager ist endgültig passé.
Nunzio dagegen, das zweite Pendel, das in dieser Familie ausschlug, war ganz aufgegangen in seiner Journalistenidentität, schrieb griffige Reportagen über die Zensur bei der Post für Parlamentarier in Bern, enthüllte Steueraffären, enragierte sich öffentlich über sexuelle Belästigung von Angestellten oder recherchierte mit Fiebereifer im Umfeld der Schweizer Waffenschieberei. Seine Welt war ihr zusehends fremd geworden, und nun suchte sie nach ihm zwischen all den Apparaturen und Stapeln von Papier,den Quellenaussagen, geheimen Interviews, Tatsachenbeständen, ermittelten Zahlen und Fakten. Hinter einem Bücherregal, das quer in den Raum hineinwuchtete, entdeckte sie ihn, wie er seinen Blondschopf in ein Lexikon tauchte.
»Da! Es stimmt also!«
»Nunzio, ich muss dir etwas erzählen …«
»Ja, sicher. Aber zuerst muss ich diesen Artikel fertigstellen. Einen ungeheuerlichen Stein, den diese Dorftrottel da angeschoben haben. Jetzt sollen die mal dazu schauen, dass nicht genau dieser Stein sie überrollt und in den Abgrund reißt. Was meinen die eigentlich, wäre die Schweiz ohne die Ausländer? Hä? Da, lies mal, ich muss nur noch kurz in die Stadt fahren, mich mit einem Informanten treffen. Wirf doch, solange ich weg bin, einen Blick da hinein, und sag mir nachher, was du davon hältst. Deine Meinung ist mir wichtig.«
Nunzio drückte ihr einen Stapel Papiere in die Hände und fegte an ihr vorbei aus dem Büro. Der Telex ratterte noch immer.
Emma schob einen Packen Fotos zur Seite, legte den Rohentwurf des Artikels auf den Tisch und ließ sich auf Nunzios Jasper-Stuhl sinken. Das hölzerne Sitzblatt hatte sich in all den Jahren seinen Maßen angepasst, sie rutschte darin herum wie in einem ungesicherten Sessellift, der sie in seine Höhen transportierte.
Sie las den Titel
Überfremdung?
, den Nunzio von Hand durchgestrichen hatte, und daneben hatte er in seiner schnellen Schrift
Urtümliche Gewalt
und ein Ausrufezeichen hingesetzt. Nun also die Ausländer. Es wurde still, als der Telex seine Mitteilung abrupt unterbrach, nur von oben vernahm Emma das holperige warme Geräusch von Glaskugeln, die eine Bahn hinuntertrudelten. Sie senkte ihre Augen auf das erste Blatt.
Patrioten fürchten die Über fremdung ihres Alpenlandes . In einem Volksentscheid sollen die Schweizer entscheiden, ob über 500 000 Ausländer das Land verlassen müssen.
Eine notwendige Rosskur, erklärte Valentin Oehen, Führer der Patrioten-Vereinigung NA (Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat), müsse bewirken, dass die Schweiz wieder gesunde.
Die Alpenrepublik krankt nach Ansicht Oehens und seiner Freunde an zu vielen »frömdi Fötzeln« (Volksmund für Ausländer), an »Tschinggen« (Italienern) vor allem, aber auch an »Sau-Schwoben« (Deutschen). Denn von den rund 6,5 Millionen Bewohnern der Schweiz besitzen fast 1,1 Millionen einen ausländischen Pass.
Am nächsten Sonntag sind die Schweizer aufgerufen, darüber abzustimmen, ob die Ausländer gehen müssen. Zur Volksabstimmung kommt es, weil die NA-Leute 62 000 Unterschriften (12 000 mehr als erforderlich) für ihre »Überfremdungs-Initiative« sammeln konnten.
Entscheidet sich die Mehrheit für Oehens Initiative, dann dürfen in drei Jahren kaum mehr als eine halbe Million Fremde in der Schweiz leben. In den einzelnen Kantonen will Oehen den Ausländeranteil auf zwölf Prozent beschränkt wissen.
Damit
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