Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
wir abschwören. Ich möchte, dass wir uns von der Vergangenheit lösen und unser eigenes Spiel spielen, nicht mehr das Spiel
das haben wir immer schon so gemacht
. Ich möchte, dass wir frei sind.«
    »Wie das? Wir sind doch völlig frei?«
    »Nein. Wir haben uns mit so viel altem Schrott verkuppelt, mit so vielem, das mit uns gar nichts zu tun hat, das wir Tag für Tag durchs Leben schleppen.«
    Nunzio schaute sie an. War dies einer ihrer unreflektierten Anfälle? Die Schallplatte, die ihr Abspieltempo nicht fand? Oder hatte sie sich wirklich Gedanken gemacht, einenEntschluss getroffen? Begegnete sie ihm hier im Spital zum ersten Mal auf Augenhöhe?
    »Nunzio, ich möchte, dass es in unserer Familie keine Coiffeure und keine Posticheure mehr gibt und auch keine Musiker mehr. Hast du nicht gehört, wie Opapa sagte, Lorine hätte perfekte Violinistinnenfinger? Das muss ein Ende haben. Dieses ganze Weiterreichen von Schicksalen, diese Vorbestimmung, für die man letztlich doch nichts kann und die einen fast erstickt. Damit ist jetzt Schluss. Keine Weichen mehr, die wir für die Kinder stellen. Ich will, dass sie autonom aufwachsen. Und ich will, dass sie antiautoritär erzogen werden. Ich will, dass sie dereinst in eine freie Schule gehen, dass sie von freien Menschen unterrichtet werden in der wahren Kunst des Lebens.«
    »So etwas wie Summerhill meinst du?«
    »Ich will, dass sie zu freien Menschen heranwachsen, die frei über ihr Leben entscheiden können. Ich habe nachgedacht.« Dann noch einmal: »Ich habe nachgedacht.«
    Beide schwiegen. Dann setzte Emma erneut an: »Die ihr Schicksal dereinst in die eigenen Hände nehmen. Hast du mir denn nicht zugehört, als ich dir erzählt habe, dass sich in meiner Familie einmal eine Frau das Leben nahm, weil man ihr ein Schicksal aufgezwungen hatte? Es heißt, sie habe Streichholzköpfchen geschluckt, um sich zu vergiften.«
    Nunzio wollte protestieren oder zumindest beschwichtigen, aber sie war schneller. »Nein! Hör mir jetzt zu! Alles wiederholt sich wie in Endlosschlaufen. Das ist doch Wahnsinn! Und dann die Sache mit der Religion! Ich will, dass wir aus der Kirche austreten. Ich will nichts mehr wissen von Judentum und Christentum, von Reformierten oder Katholiken, ich will frei sein, Nunzio, verstehst du das denn nicht? Bekommst du denn nicht mit, wie mein Vater immer zusammenzuckt, wenn ihn jemand mit seinem jüdischenNamen anspricht? So weit haben es die Religionen untereinander gebracht, und ich sage nein, Schluss jetzt damit, basta.«
    Nunzio streichelte ihr über das wirre Haupthaar. Er liebte es, wenn sich die borstigen Locken um seine Finger verknäuelten, für ihn Heimatgefühl, ein Hort von Wärme, Zuhause für den Moment.
    »Möchtest du denn auch frei sein von mir? Von der … Ehe? Eine moderne, offene Beziehung, die freie Liebe praktizieren, so, wie das jetzt alle tun?« Er suchte ihren Blick. »Das ist doch auch nur wieder … nichts als Zwang, oder?«
    »Dazu kann ich noch nichts sagen. Das will ich langsam angehen. Ich bin gerne mit dir zusammen, das schon, das zumindest kann ich sagen.«
    Nunzio atmete einmal durch. Dann sagte er: »In Ordnung. Das hat mich ohnehin schon lange geärgert, dass wir Kirchensteuer zahlen müssen. Ab heute keine Religion mehr. Keine vorgeplanten Musikerkarrieren, keine geformten Künstlerkinder und keine erzwungenen Haarteilmacher mehr, außer, wenn sie’s selber wollen.«
    »Keine Obrigkeiten, die Kinder verbiegen, keine Gouvernanten.«
    »Keine.«
    »Keine Karrierepläne, die wir für sie schmieden, überhaupt keinen Karrierezwang.«
    »Keinen.«
    »Keine Spielregeln, kein Druck, und nicht der geringste Schubs, was die Wahl ihrer Freunde anbelangt.«
    »Kein Druck, gar nichts.«
    »Sie sollen frei sein.«
    Auch hier atmete Nunzio einmal schwer, aber bestimmt durch und zog behutsam seine Hand aus Emmas Haar. Er reichte ihr ein Taschentuch, und Emma schneuzte sich.
    Als sie eine Weile nebeneinander geschwiegen hatten unddas schlafende Mädchen in seinem Bettchen betrachtet, sagte sie leise: »Und noch etwas. Ich will auch das mit den Namen nicht.«
    »Nicht die Namen! Ich habe mir doch schon etwas so Schönes überlegt!«
    »Nunzio, wir wollen diesem Kind kein Schicksal aufbürden.«
    »Aber Emma …! Ich habe mir gedacht, wir könnten sie Malka Esmeralda nennen, nach deiner Großmutter und nach meiner Mutter. Das wäre doch wirklich schön. Und ganz einzigartig in dieser Verbindung.«
    Emma überlegte. Nachdem wieder

Weitere Kostenlose Bücher