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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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käme es zu einem in Friedenszeiten beispiellosen Exodus. Allein in Genf ist jeder zweite Einwohner Ausländer. Vier von zehn Bewohnern des Tessins sind Nichtschweizer. Aus dem Kanton Zürich müssten über 100   000 Fremde ausziehen, über 70   000 aus dem Kanton Waadt am Genfer See. Damit nicht genug. Oehen will auch die Zahl der Saisonarbeiter auf 150   000 begrenzen und die Zahl der (meist deutschen) Grenzgänger von 105   000 auf 70   000 senken.
    Drei Jahre lang, so kalkulierten Berner Regierungs-Experten, müssten »pro Tag mindestens 500 Gastarbeiter hinausgeworfen
werden«. Die linksliberale »Basler National-Zeitung« rechnete den Schweizern vor, ein »176 Kilometer langer Eisenbahnzug« sei nötig, die Fremden »in der gesetzten Frist fortzuschaffen«.
    Doch die Gegner Oehens und seiner Vaterlands-Schützer nehmen die Abstimmung ernst. Denn neben Gastfreundschaft und Aufgeschlossenheit haben auch Fremdenhass und kleinbürgerlicher Patriotismus in der Schweiz Tradition.
    Schon 1965 hatten Zürcher Bürger eine Volksabstimmung über die Ausweisung der Ausländer beantragt. Sie zogen ihr Begehren aber zurück, als die Regierung versprach, den Zustrom von Fremden einzudämmen. 1970 stimmten die Schweizer tatsächlich ab. Nur um wenige Prozent verfehlte der Initiator der Abstimmung, Nationalrat James Schwarzenbach, das Ziel, die Ausländer per Stimmzettel loszuwerden.
    Zwei Jahre später drückte dann NA-Führer Valentin Oehen die neue Abstimmung durch. Parolen wie »Eine Million fremder Menschen wird uns als eidgenössischer Verelendungs-Nachwuchs aufgepropft« und »Wir handeln in staatlicher Notwehr« verfingen besonders bei Schweizer Kleinbürgern.
    Ihnen sind vor allem die fast 600   000 Italiener, auch »Salami-Brüder« oder »Gotthard-Chinesen« genannt, zuwider. Sprachschwierigkeiten, Temperament, die unbegrenzte Bereitschaft der Südländer zu Überstunden und nicht zuletzt ihre Erfolge bei den Schweizerinnen verleiden sie den Eidgenossen.
    »Rechten Schweizern«, tönte ein NA-Mann, »kommt das Grusen beim Gedanken, dass die Fötzel schweizerische Einrichtungen benutzen.« Anstoß nehmen solche Urschweizer auch daran, dass die Fremden im Krankheitsfall sogar saubere Schweizer Spitalbetten belegen dürfen.
    Andere Eidgenossen freilich schaudert vor einer Zukunft
ohne Gastarbeiter. Heute werden all jene Arbeiten, für die sich Schweizer mittlerweile zu schade sind, von ausländischen Arbeitskräften verrichtet. So karren fast ausschließlich Italiener den Schweizer Müll zusammen, und fast nur Fremdarbeiter steigen in die Kanalschächte hinab, reparieren Gasleitungen und Gleisanlagen. Im Baugewerbe beträgt der Anteil ausländischer Arbeitskräfte 60 Prozent, im Gaststättengewerbe 66 Prozent.
    In fast allen Schweizer Gaststuben werden neuerdings denn auch mit dem Essen die Befürchtungen des Hotel- und Gaststättenverbands serviert.
    »Wenn die Initiative angenommen wäre«, steht auf Papierservietten aufgedruckt, »würden Sie vergeblich nach Ihrem Essen Ausschau halten, denn auch das letzte ausländische Küchenpersonal hätte die Schweiz verlassen.«
    Und eine Million Schweizer Bierdeckel geben zu bedenken: »Darf man eine halbe Million Menschen vertreiben?«
    Nicht nur die Schweizer Gastronomie, sondern auch zahlreiche Industrie-Unternehmen geraten durch einen Gastarbeiter-Exodus in Schwierigkeiten. Alle Mitarbeiter in den Webmaschinen-Fabriken des renommierten Sulzer-Konzerns kommen aus dem Ausland, im Pharma-Konzern Ciba-Geigy müsste jeder fünfte nach Hause geschickt werden. Das Arzneimittel-Unternehmen Sandoz müsste seine Forschungstätigkeit in der Schweiz »um die Hälfte einschränken«, so ein Sandoz-Manager, »wenn die hochqualifizierten ausländischen Fachkräfte das Land verlassen«.
    »Landesweit«, resümiert Arbeitgeberverbands-Funktionär Schwarb, »entstünde ein so großes Arbeitskräfte-Manko, dass viele Betriebe vor die Existenzfrage gestellt wären.«
    Dies käme Oehen, der unablässig predigt, die Schweiz müsse sich »gesundschrumpfen«, gerade gelegen. Denn er hofft, nun auch die Stimmen zahlreicher Schweizer Umweltschützer zu gewinnen. »Wir dürfen«, tönte Oehen, »mit Sicherheit
annehmen, dass neue Kräfte mit urtümlicher Gewalt wieder lebendig werden, sobald die Masse des Volkes die Bedrohung seiner Lebensgrundlagen erkennt.«
    Der Glaube an die urtümlichen Kräfte der Schweizer ist heute selbst dem Initiator der Volksabstimmung von 1970 zu viel. James

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