Die Ruhelosen
und seinen Kopf riskieren. Den Trabi. Das eigene Leben.
Mittlerweile waren auch die ersten Ungaren auf ihren braunen und roten und schwarzen Halbblütern angeritten gekommen, und Familien mischten sich zaghaft unter die Deutschen, die unruhig über die Wiesen streiften, immer nah dem Grenzzaun entlang. Bald schon kamen Busse, restlos überladen mit weiteren Hunderten von ungläubig Hoffenden, und entleerten sich in die Wiesen, Männer, Frauen, Kinder rannten herbei, jede und jeder wollte da sein, wenn das Unfassliche tatsächlich geschah.
Die alte Landstraße, die Sopron-Pozsony, war seit undenklichen Zeiten gesperrt. Seit Ausbruch des Kalten Krieges, wer wusste schon, wie lange? Es gab jede Menge Stacheldraht, Flutlichter, Überwachungsanlagen, Grenztürme auf hohen Stelzen, automatische Schießanlagen, Tretminenstreifen und tiefe Gräben. Von Menschenhand geschlageneWunden in ein einst vereintes Kaiserreich – mochten die einen denken. Gefängnis, Gefängnis, die anderen. Und all dies sollte mit dem heutigen Tag vorüber sein?
Der Menschenstrom wollte und wollte nicht abebben. Viele schauten sich ungläubig an, verwundert, trotzig, aufgeregt, andere hoffnungsfroh. Auch Dóra Hámori war darunter, eine junge ungarische Lehrerin voller Zweifel und Fragen. Sie wollte selber sehen, mit ihren eigenen zwei Augen.
Überall Wirrwarr. Menschen, die etwas erhofften und erwarteten, das sie nicht hätten auszudrücken vermocht, für das sie die Worte vergessen hatten, deren Erinnerung aber Motor für jede einzelne Bewegung war, ein Motor, der, einmal angeworfen, durch nichts mehr abzuwürgen war. Fünfzehn Uhr. Die angekündigte Delegation von Politikern und Künstlern war immer noch nicht vor Ort. Der Menschenmotor spotzte, und ein Rumpeln ging durch die vorderen Reihen, Dóra Hámori kniff die Augen zusammen, etwa hundert oder hundertfünfzig Männer aus der DDR drehten durch. Sie warfen sich gegen das hölzerne Grenztor mit der Kraft ihrer Leben, sie stürmten es.
Dóra stand eingekeilt zwischen zwei berittenen Grenzwachen, Hufe stampften, Nüstern schnaubten, sie suchte den Blick des diensthabenden Grenzoffiziers, und obwohl der Schießbefehl noch gültig war, blieb Árpád Bella besonnen und hörte auf sein Herz. Unter seinen Augen drangen Hunderte von ostdeutschen Bürgern nach Österreich hinein, unternahmen diese wenigen Schritte durch den Zaun und darüber hinweg in die dahinterliegende Wiese, wo sie von weinenden und händeringenden Österreichern empfangen wurden. »Hier sind Sie frei!« und »Sie sind in Österreich. Keine Gefahr mehr! Wir helfen!«, stand auf den Plakaten, die Einzelne hochhielten und mit denen sie wie mit weißen Fahnen ihr Friedensangebot durch die Luft und über die Köpfe der mit Freudentränen Überströmten schwenkten.
Unter den wachsamen Blicken der ungarischen Grenzer, die nur da und dort unterstützend eingriffen, um sicherzustellen, dass sich in der Massenaufregung niemand ernstlich verletzte, fielen sich Fremde diesseits und jenseits der Grenzen in die Arme, wie lang vermisste Kinder ihren Eltern. Die Menschenströme flossen einander zu und ineinander hinein, vereinten sich und sprudelten in einzelnen Bächlein weiter, einem nächsten zu, begleitet von einem Zittern in der Luft und aufgescheucht von einer plötzlichen Windbö, als hätte der angrenzende Wald lange, lange die Luft angehalten und jetzt endlich seine Lungen zum Aufatmen befreit.
Für wenige Stunden blieb die Grenze offen. Und Dóra tat etwas, was sie nicht begreifen konnte. Sie unternahm eine kurze Reise ins verbotene Ausland Österreich. Verließ mit einem Schritt die Sopronpuszta und stand auf österreichischem Wiesenland.
Abends, als die Grenze wieder dichtgemacht worden war, trug der Wind noch immer hier und dort ein Flugblatt über die Baumwipfel. Eines lag schlammbeschmiert am Boden mit mehreren Schuhabdrücken darauf. Dóra las:
Paneuropäisches Picknick in Sopron am Ort des Eisernen Vorhangs! Wir laden Sie am 19. Aug. 1989 ab 15.00 Uhr nach Sopronpuszta ein, zum neben der gewesenen Grenzsperre liegenden Gebiet, wo Sie namhafte Vertreter des sich erneuerten ungarischen kulturellen und politischen Lebens treffen können.
Der restliche Mittelteil des Flugblattes war verschmiert und unkenntlich, aber unten, unter dem Stichwort
Programm
, entzifferte sie weiter:
15.00 –16.30: Botschaft der Schirmherren der Veranstaltung
, und bald darunter:
16.30 –18.00 Baue ab und nimm mit! Die Teilnehmer dürfen sich
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