Die Runen der Erde - Covenant 07
in deren Schutz sich das Lager befand, ragten zu allen Seiten Gipfel in den Himmel auf. Dies waren die niedrigeren und bescheideneren Bergketten, die das Land begrenzten, nicht die uralten, in ewigen Schnee gehüllten höheren Bastionen des Südlandrückens. Nur wenige von ihnen waren noch mit Schnee bedeckt, und auch dieses Weiß hielt sich nur an Stellen, die selten ein Sonnenstrahl erreichte. Trotzdem ragten sie wie Wächter um das Lager herum auf: massiv und schwindelerregend steil, wahre Titanen der Erde. Die von ihren Steilflanken herabfließende Luft wirkte wie ein Elixier, belebend scharf und rein. Mit ihren granitenen Steilwänden und ihrer unerschütterlichen Standhaftigkeit gewährten sie sichere Zuflucht in ihrer Mitte.
Tau benässte Lindens Stiefel, als sie mit großen Schritten zu dem Lagerfeuer eilte, an dem sie Sahah zurückgelassen hatte, und selbst ihre heftig schmerzenden Muskeln konnten ihre Erwartung nicht dämpfen. Gerissene Muskelfasern und gezerrte Bänder schmerzten lediglich. Sie konnten die Wiederherstellung ihrer Sinne nicht beeinträchtigen.
Sofort rief Liand ihren Namen, winkte ihr zu und eilte, um sich zu ihr zu gesellen. Als sie ihn sah, wusste sie sofort, dass er seit langem wach war, weil er zu jung und zu eifrig war, um in Gesellschaft der Ramen lange schlafen zu können. Und sie erkannte, dass auch er die Wirkung des zurückgewonnenen Gesundheitssinns in sich spürte. Er genoss die neue Wahrnehmungsgabe in gehobener Stimmung, trunken von der tiefen Bedeutung aller ihn umgebenden Dinge. Erregung schien aus jeder Linie seines Körpers zu leuchten und zu strahlen.
»Linden«, rief er freudig aus, »ist das nicht wundersam?« Offensichtlich empfand er zu viele Wunder, um sie einzeln zu benennen.
Über sein Vergnügen lächelnd ging sie in Richtung Lagerfeuer weiter.
Sie war noch zehn Schritte davon entfernt, als sie Sahahs schmerzliche Qualen zu spüren begann.
Mähnenhüterin Hami und zwei Seilträger kauerten neben der Verletzten; Linden erkannte sofort, dass sie die ganze Nacht an ihrer Seite verbracht hatten: Ihre Nachtwache zeigte sich in ihrem gehetzten Blick. Am Vortag hatte Hamis nüchterne Art den Eindruck vermittelt, als schätze sie den Wert des Lebens ihrer Seilträger nicht allzu hoch ein, als seien andere Erwägungen ihr wichtiger als das Leben und Sterben einzelner. Jetzt erkannte Linden jedoch die Wahrheit. Die Ramen lebten gefährlich, waren ständig durch Entbehrungen, Raubtiere und Selbstaufopferung bedroht: Sie konnten es sich nicht leisten, die Opfer, die ihre Überzeugungen forderten, zu beweinen. Trotzdem waren die Bande zwischen ihnen stark und dauerhaft.
Ein Blick reichte aus, um ihr zu zeigen, dass Sahahs Lebensfaden dünner geworden, nur noch spinnwebenzart war. Ihre Augen glänzten fiebrig, und Schmerzen hatten tiefe Linien in ihr Gesicht geätzt. Innere Blutungen hatten ihrer Haut die Farbe von Spülicht gegeben, als könnte das Fleisch sich im nächsten Augenblick von den Knochen lösen.
Der Zustand ihres Unterleibs entsetzte Lindens Sinne.
Trotzdem hätte er schlimmer, weit schlimmer sein können. Fürsorge und Amanibhavam hatten ein kleines Wunder bewirkt: Sahah lebte noch.
Antibiotika und eine Blutübertragung hätten sie vielleicht noch retten können. Aber die geschwollene linke Bauchseite nässte, war hochrot entzündet. In die Bauchhöhle austretende Galle hatte die Wirkung von heißem Wasser und Amanibhavam zunichte gemacht; die Infektion fraß wie Säure an ihren schwindenden Kräften.
Die Seilträger, die Hami entsandt hatte, damit sie Heilerde holten, würden vielleicht bis Mittag zurück sein, aber Sahah würde nicht so lange durchhalten.
»Ring-Than.« Die Stimme der Mähnenhüterin war ein müdes Krächzen. »Wir haben überlegt, ob wir die Wunde öffnen sollen, um mehr Amanibhavam aufzutragen.« Sie zeigte Linden eine kleine Schale mit dem Allheilmittel der Ramen. Die mit etwas Wasser zerstoßenen Blätter waren so potent, dass ihr Duft Linden in der Nase brannte. »Aber ich wollte zuvor deinen Rat einholen. Obwohl deine Wahrnehmung beeinträchtigt war, hast du gezeigt, dass du viel vermagst. Kannst du jetzt wieder sehen, kannst du uns vielleicht auch sagen, was wir tun müssen.« Offenbar erschwerte es ihr Stolz ihr auszudrücken, was sie sagen wollte. Am Vortag hatte sie die von Linden angebotene Hilfe noch zurückgewiesen. »Unter meinem Befehl sind gestern drei Seilträger gefallen. Wir halten ihr Andenken in Ehren, denn sie
Weitere Kostenlose Bücher