Die Runen der Erde - Covenant 07
jedoch den Höhleneingang erreichte und von der Druckwelle erfasst wurde, hörte sie trotz ihrer Taubheit einen gellend lauten Warnschrei, der von Esmer kam. So plötzlich, dass ein Zusammenprall unvermeidbar war, tauchte er zwischen ihr und der drohenden Gefahr auf.
Er stand der Höhle zugewandt da und rief offenbar etwas, das sie noch immer nicht hören konnte. Mit einer Hand zeigte er mehrmals auf den vor Lindens Bluse an seiner Kette baumelnden Weißgoldring, mit der anderen Hand errichtete er in der Schlucht hinter ihr einen unsichtbaren Wall, eine Barriere aus Energie, die Lindens Gefährten und die Urbösen daran hinderte, ihr zu folgen. Jenseits dieses Walls schienen Liand und Bhapa sie zu rufen, und Pahni klammerte sich an die beiden, als hätte sie die Stimme verloren, aber Stave und Mahrtiir waren schon dabei, die Steilwände der Schlucht zu erklettern, um so vielleicht Esmers Wall zu umgehen. Und die Urbösen schlossen sich auf dem Flussbett zu ihrem Keil zusammen, um einen Gegenangriff mit Säure vorzubereiten.
Linden blieb freiwillig stehen.
Vor ihr stand ein Wegwahrer.
Sie erkannte ihn sofort, obwohl zehn Jahre vergangen waren, seit seine Artgenossen Covenant und ihr auf den Nordlandhöhen das Leben gerettet hatten, aber sie hätte nie geglaubt, dass sie jemals wieder einen der ihren zu sehen bekommen würde. Sie hatte geglaubt, alle Wegwahrer, alle Rhysh oder Gemeinschaften, hätten sich damals zusammengetan, um die Raubzüge der Arghuleh zu beenden. Und dabei seien die meisten von der unerwarteten Macht der Eisbestien überwältigt umgekommen.
Hatten doch genügend Wegwahrer überlebt, um einen letzten Rhysh zu bilden? Dann waren sie unter keinen Umständen ihre Feinde. In ihrem langen Dasein hatten sie dem Land unter vollem Einsatz ihres fremdartigen Wissens gedient.
Aber sie waren stets Todfeinde der Urbösen gewesen ...
Wie seine Artgenossen war auch dieser Wegwahrer kleiner als jeder Urböse: aufrecht stehend reichte sein Kopf ihr nur bis zur Brust. Und seine Haut wies eine unbestimmte Graufärbung auf, die in direktem Sonnenlicht blass gewirkt hätte, aber hier im Schatten zwischen den Felswänden der Schlucht wie von Krankheit oder Sorge gefärbt dunkel erschien. Trotzdem konnte dieses Wesen nur ein Geschöpf von Dämondim sein. Spitze Ohren saßen hoch auf dem kahlen Schädel; der gesamte Körper war unbehaart; statt Augen gähnten zwei weite feuchte Nasenlöcher über dem lippenlosen Mund.
Der Wegwahrer stand unmittelbar vor dem Höhleneingang. Sein Mund bewegte sich; aber selbst wenn Linden hätte hören können, was er sagte, hätte sie ihn nicht verstanden. Sowie die Urbösen den Stab des Gesetzes gewittert hatten, mussten sie gewusst haben, dass Wegwahrer in der Nähe waren. Hätte Esmer nicht interveniert, wären die beiden verfeindeten Gruppen bereits übereinander hergefallen.
Jetzt antwortete Cails Sohn dem Geschöpf mit Worten, die Linden nicht hörte, sondern nur als schwaches Summen in ihren Schädelknochen wahrnahm. Dabei deutete er nochmals auf Covenants Ring. Als der Wegwahrer diesmal sprach, hörte sie leise prasselnde Laute, die Ähnlichkeit mit den Phosphenen hatten, die am Rand ihres Gesichtsfelds verharrend die Schatten aufhellten. Dann erklang wieder Esmers raue Stimme; aber sie merkte erst, dass er mit ihr sprach, als er sie an den Schultern packte und zu sich herumdrehte. Wie der Mund des Wegwahrers formten seine Lippen unverständliche Laute. Linden bemühte sich, ihm mit Gesten verständlich zu machen, dass sie ihn nicht hören konnte.
Esmers grüne Augen funkelten, als er sie verdrießlich anstarrte. Über die Schulter hinweg sagte er etwas zu dem Wegwahrer; dann sprach er, als erteile er Lindens Gefährten Anweisungen. Aber er wartete keine Antwort ab. Stattdessen hob er die Hände an Lindens Ohren und tippte leicht mit den Fingerspitzen darauf.
Die Urbösen behielten abwartend ihre Formation bei.
Einen Augenblick lang kribbelten Lindens Trommelfelle von Esmers Berührung, dann stürmten laute Geräusche auf sie ein, schrill und drängend wie Sirenengeheul. Plötzlich konnte sie Liands Keuchen und den rauen Sprechgesang der Urbösen hören, ebenso wie Pahnis ängstliches Flüstern. Obwohl Stave und Mahrtiir sich leicht und sicher den Rand der Schlucht entlangbewegten, klangen ihre Schritte wie ein Felssturz.
Als Esmer fragte: »Hörst du jetzt?«, hätte er ihr ebenso gut ins Gesicht schreien können.
Sie zuckte zusammen. »Zu laut.« Auch ihre Stimme
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