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Die Runen der Erde - Covenant 07

Die Runen der Erde - Covenant 07

Titel: Die Runen der Erde - Covenant 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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fast verkrüppelt aus. Sie ahnte ihre arthritische Überanstrengung, als hätten sie vor Schmerzen geschrien. Sein mühsames Atmen drohte ihn zu ersticken. Er litt Todesängste, und sein Aufstieg war der Versuch, ihnen zu entkommen.
    Lindens Wahrnehmungsfähigkeit war zu scharf; sie empfand sein Leid zu heftig. Sie hatte vergessen, wie sie die über sie hereinbrechenden Empfindungen kontrollieren konnte. Sie zog sich vorsichtig an den gegenüberliegenden Rand der Plattform zurück, blieb dort mit dem Rücken an die Brüstung gelehnt sitzen und machte sich auf den Augenblick gefasst, in dem er in der Lücke auftauchen würde. Wovor konnte er fliehen, indem er hier heraufkam? Nun gab es für sie beide kein Entkommen mehr. Sie zog Covenants Ring aus ihrer Bluse und hielt ihn mit den Händen umfasst, als bete sie.
    Mit verzweifeltem Keuchen stemmte der Alte sich über den Rand der letzten Stufe und brach nach Luft schnappend zusammen. Seine Beine baumelten noch über der Treppe. Die Weise, wie er ausgestreckt dalag, sagte Linden gleich, dass er sein geistiges Gleichgewicht schon vor langer Zeit eingebüßt hatte; dass er dem Wahnsinn verfallen war. Und er hatte seit Tagen nichts mehr gegessen. Hunger und Sorge hatten ihm den Verstand geraubt.
    Er erinnerte sie an Nassic ...
    Bei ihrer gemeinsamen Ankunft im Land waren Covenant und sie von Sunders Vater Nassic begrüßt worden, der von einer langen Reihe halb wahnsinniger Eremiten, die Freischüler genannt wurden, ein vages Wissen über den Zweifler geerbt hatte. Obwohl er die alte Überlieferung ziemlich durcheinanderbrachte, hatte er alles getan, was er vermochte, um ihnen zu helfen. Zum Dank dafür hatte ein Wüterich ihn ermordet. Dieser Alte konnte in ähnlicher Gefahr schweben.
    Ihre eigenen Ängste waren sofort vergessen. Sie richtete sich kniend auf, packte den Alten an den Armen und zog ihn ganz auf die Plattform. Dann kroch sie zu der Lücke, spähte erneut nach unten und suchte die Wolkendecke nach irgendeinem Anzeichen für Turiya Herems, des Wüterichs, Bösartigkeit ab. Die Wolke behinderte weiter ihre Wahrnehmung; sie gab ihre Geheimnisse nicht preis.
    »Los, mach schon!«, drängte sie die Tiefe. »Versuch es mit mir. Ich bin nicht in Laune für derlei Spielchen!«
    Bisher war es ihr nicht gelungen, auch nur eines von Rogers Opfern zu retten. Hierzulande aber besaß Covenants Ring jedoch Macht. Mit ihrer Hilflosigkeit war jetzt Schluss.
    Als nichts Weiteres aus den Wolken auftauchte, zog Linden sich langsam von der Lücke zurück, konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den zusammengebrochenen alten Mann zu ihren Füßen. Einige Sekunden lang studierte sie ihn mit ihrem Gesundheitssinn und versuchte zu bestimmen, wie nahe er dem Tode gekommen war. Als sie ihn jetzt genauer begutachten konnte, sah sie, dass er sein Leben nicht erschöpft hatte. Trotz seiner Geistesverwirrung besaß er erstaunliche Kraft. Genährt wurde sie durch ...
    Neues Erstaunen ließ sie auf die Fersen zurücksinken.
    ... durch Erdkraft.
    Sie rieb sich automatisch die Augen, als könnte sie dadurch ihre Sinne schärfen. Der Alte war ein mit gewisser Macht ausgestattetes Wesen. Ohne Zweifel menschlich: alt, arthritisch und gebrechlich. Trotzdem klopfte in seinen verbrauchten Adern ein aktiver Erdkraftpuls. Er ließ sie an Hollian denken, die durch Caerroil Wildholzens Opfer und den Krill von Lorik ins Leben zurückgeholt worden war. Linden erinnerte sich lebhaft an sie, wie sie neben Sunder gestanden hatte: schön und von greifbar gewordener Erdkraft sanft strahlend ... und doch sterblich. Auch Sunder hatte an dem numinosen Strahlen teilgehabt. Sogar das Kind in Hollians Leib hatte daran teilgehabt. Aber weder Sunder noch Hollian waren geistesgestört gewesen.
    Und in dem Alten steckte noch etwas anderes, eine weitere Krankheit, die zu seiner Arthritis und seiner Instabilität hinzukam. Linden konnte sie nicht gleich definieren, als sie ihr erstmals auffiel; aber dann ächzte er, bewegte sich und hob den Kopf, und sie sah, dass er blind war. Er hatte ein Gesicht wie ein spröde gewordener Felsblock: lauter scharfe Kanten und raue Flächen, durchs Gewirr eines vernachlässigten Bartes und eine Patina aus tief in den Poren sitzendem Schmutz kaum abgemildert. Sein Mund glich einem Riss in eingetrocknetem Schlamm. Und darüber hatten seine Augen, die weder Iris noch Pupille aufwiesen, die milchige Farbe von Mondstein. Zunächst glaubte sie, er leide an Grauem Star, aber als sie genauer

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