Die Runen der Erde - Covenant 07
begann sie. Dann zögerte sie jedoch. Sie wusste kaum, wo sie anfangen sollte. Selbst wenn er bei Verstand gewesen wäre, hätte sie nicht gewusst, womit sie beginnen sollte. Sie musste zu erraten versuchen, welche Fragen er beantworten konnte. Aber sie hatte lange Jahre damit zugebracht, mit geistig Geschädigten umzugehen. Sie hatte gelernt, wie man sie sanft aushorchte. »Du bist Anele?«, fragte sie ruhig. »Das ist dein Name?«
Mit etwas Konkretem beginnen. Etwas, was nicht bedrohlich ist. Er nickte wie zustimmend.
»Und du hast Feinde?« Ein gebrechlicher alter Mann in seinem Zustand? »Was wollen sie von dir?«
Was war es?
Die weißen Augen starrten sie an. » Sie wollen Anele fangen. Ihn einsperren. Sie sind schrecklich, überall schrecklich. Es wird ihn überwältigen. Sie lassen sich täuschen. Es lässt sich nicht austricksen.«
Seine Antwort erklärte nichts. Sie versuchte eine andere Art der Fragestellung. »Warum verfolgt es dich? Warum tun sie das?«
»Ah!« Anele verfiel in leises Wehklagen. »Sein Geburtsrecht. Heiliges Pfand. Verloren, versagt. Anele hat versagt. Alles, alles verloren.«
Offenbar war er zu schwer verletzt, um in Begriffen zu antworten, die sie verstehen konnte. Vielleicht waren ihre Fragen zu abstrakt, zu weit von seiner gegenwärtigen Notlage entfernt.
»Ich verstehe«, wiederholte sie, um ihn nach Möglichkeit zu beruhigen. »Ich bin hier. Ich besitze Macht.« Schließlich hatte er das selbst gesagt. »Wer immer sie sind – was immer es ist –, sie haben keine Ahnung, wozu ich imstande bin.« Dann fuhr sie fort, als nehme sie selbst keine Bedrohung wahr: »Es verfolgt dich. Ist es in der Nähe?«
»Ja!«, antwortete er sofort. »Ja!« Er nickte heftig. » Beschütze ihn. Er muss beschützt werden!«
»Anele!« Sie sprach strenger. »Ich bin hier .« Vielleicht konnte Strenge seine Verwirrung durchdringen. »Ich weiß, dass du Schutz brauchst. Ich will dir helfen. Aber erst muss ich mehr wissen. Wie nahe ist es? Wo ist es?«
Der Alte sprang ohne Vorwarnung auf. Seine blinden Augen blieben auf Linden gerichtet, aber er gestikulierte mit dem linken Arm wild hinter sich, schien auf einen Teil des unter der Wolkendecke liegenden Steilabfalls zu deuten. »Dort!«
»Jetzt?«, fragte sie ungläubig. Ihre Sinne hatten nichts entdeckt. »Ist es jetzt dort?«
»Ja!« Der Alte hob den Kopf und schrie in den klaren Himmel: »Es verfolgt ihn!« Er ruderte im hellen Sonnenschein verzweifelt mit den Armen. Unter ihrer Schmutzschicht wirkten sie zerbrechlich wie trockene Zweige. »Armer Anele. Sein letzter Trick. Er wird springen. Er muss! « Dann begann er zu weinen, als sei es mit ihm zu Ende, als könnte selbst die in seinen Adern pulsierende Erdkraft ihn nicht länger aufrechterhalten.
Linden stand sofort ebenfalls auf. »Anele!«, sagte sie eindringlich und packte ihn an den Schultern, damit er sich nicht vom Kevinsblick stürzen konnte. »Anele! Hör mir zu. Ich bin hier. Ich werde dich beschützen.«
Einen Herzschlag später machte sich jedoch am Rand ihres Gesichtsfelds eine wirbelnde Störung bemerkbar, fesselte ihre Aufmerksamkeit und zog sie so sehr auf sich, dass Linden wie von einem Schlag getroffen fast taumelte. Ohne Aneles Schultern loszulassen, drehte sie den Kopf leicht zur Seite.
Allmächtiger Gott! Was ist das?
Weil sie nun aufgestanden war, konnte sie das Ding sehen, vor dem Anele sich fürchtete. Sein Anblick schien kribbelnd über ihre Haut zu kriechen wie ein Ameisenschwarm. Die unheimliche Kinästhesie ihres Gesundheitssinns war so stark, dass sie den Drang, nach diesem Kribbeln zu schlagen, kaum beherrschen konnte. Weit über hundert Meter hoch stand es vor dem Westrand des felsigen Steilabfalls: ein wirbelndes, schattenreiches Gemälde aus vielfarbigen Punkten wie die wabernde Aura einer Migräne. Es ragte in Gestalt einer Windhose turmhoch auf, brodelte und tanzte heiß, jeder farbige Punkt voll glühender Energie, keiner von den anderen zu unterscheiden. Der erste Anblick schockierte Linden so sehr, dass sie es nicht klar erkennen konnte: Es schien auf die undurchdringliche Wolkendecke unter ihr projiziert zu sein, als wirbele es in einer anderen Dimension. Aber dann arbeiteten ihre Sinne schärfer, und sie erkannte, dass sie diese Erscheinung durch die Wolken sah. Sie befand sich eindeutig unter ihr, unterhalb der alles bedeckenden Wolkenschicht.
Im gesamten Gebiet unter dem Kevinsblick war allein diese Aura energiereich genug, um die Wolken zu
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