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Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)

Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)

Titel: Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Ballantine
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einen Finger an die Lippen. »Ich schlage dringend vor zu schweigen.«
    Sie schlüpften in die frostige Nachtluft zu ihrem Karren hinaus. Der Esel war glücklicherweise ruhig und fraß mit gesenktem Kopf den struppigen Lavendel, der an der Mauer wuchs. Sie mieden den knirschenden weißen Kies der Pfade, folgten ihnen aber tiefer in den Komplex hinein auf die eigentliche Abtei zu.
    Erst vor wenigen Wochen waren die beiden Diakone auf diesen Wegen noch mit einem Gefühl der Zugehörigkeit gewandelt. Jetzt ließ jedes winzige Geräusch Merricks Herz einen Satz tun. Er könnte natürlich sein Zentrum aussenden, aber dann wäre das Risiko einer Entdeckung noch größer. Für jeden Sensiblen war das Zentrum eines Kollegen ein heller Lichtstrahl und lud mitten in der Nacht zur Erkundung ein.
    Stattdessen mussten sie auf leisen Sohlen und geräuschlos atmend tiefer in den Komplex gelangen. Sie hielten sich im Dunkel der Gärten und arbeiteten sich zu den Nebeneingängen vor. Über ihnen erhob sich der Andachtssaal, das höchste Gebäude von Vermillion – nicht einmal der prachtvolle Kaiserpalast war so hoch und stolz. Der große Turm versperrte den Blick auf die Sterne wie ein uralter Riese; was für Merrick einst so tröstlich gewesen war, schien jetzt wie ein missbilligender Vater über ihm aufzuragen.
    Die kalte Mauer schnitt ihm wie Eis in den Rücken, als sie sich orientierten, bevor sie hineingingen.
    »Sind da drin Wachen?« Raeds Flüstern klang laut in der Stille.
    Sorcha schüttelte stumm den Kopf und konnte dem Prätendenten nicht in die Augen sehen. Sie mochten zwar zu dieser wechselseitigen Verbindung verleitet worden sein, aber Merrick spürte deren Stärke. Sie hatte die Verbindung zu Raed so beiläufig gewoben wie die zu ihm, aber sie war so tief und mächtig wie kaum eine andere, die Merrick studiert hatte. Wenn er sich konzentrierte, konnte er den Rossin spüren, der wie eine zusammengerollte Dunkelheit in Raed versteckt war und darauf wartete, in ihrer Mitte entfesselt zu werden.
    Für eine Sekunde erwiderte die Bestie seinen Blick und musterte ihn mit alten Augen, als wäre er ein Insekt. Merrick riss sich mit einem leisen Keuchen davon los.
    Der Prätendent, der keine trainierten Sinne besaß, ging bereits auf die Tür zu. Merrick musste sich beeilen, um die beiden einzuholen, als sie den Riegel anhoben und in die Abtei schlüpften. Drinnen war es kälter als draußen. Merricks Atem stieg weiß vor seinen Augen auf.
    Geduckt liefen sie durchs Mittelschiff zum Ende des Andachtssaals, wo einige Türen zu den Wohnungen des Erzabts und der Presbyter führten. Aus dem Augenwinkel sah Merrick eine Art Aschefetzen durch die Luft wirbeln und riss seine beiden Gefährten instinktiv an der Schulter zurück, denn ein Schrei hätte nur wie ein Gewehrschuss durch den steinernen Andachtssaal gehallt.
    Niemand erwartete von den Sensiblen, Gewalt anzuwenden, doch wie die Aktiven hatten sie ihre eigene Trainingsordnung. Geister sollten Sensible eigentlich ignorieren, aber das bedeutete nicht, dass auch Menschen das immer taten, und Geister waren nicht die einzigen Bedrohungen für einen Diakon. Seine Gefährten blieben abrupt stehen, und Merrick legte ihnen die Hand auf den Rücken und drückte die beiden zwischen die Bänke hinunter.
    Es schwebte tatsächlich nur einen Schritt entfernt etwas Weißes in die andere Richtung davon. Er konnte es kaum glauben – seitdem sie vor Jahren erstmals in die Abtei gekommen waren, hatte es nie Geister oder Schatten gegeben. Und doch war er da, ein Schatten im höchsten Heiligtum des Ordens. Die bleiche, flackernde Gestalt erhellte eine Ecke des großen Gebäudes mit unruhigem blauweißem Licht, das normale Augen als schimmerndes Flackern wahrnahmen. Aber als Merrick seine Sicht einsetzte, konnte er weitere Einzelheiten erkennen. Was er sah, raubte ihm den Atem.
    Das leicht aufwärts zur Fensterrose geneigte Gesicht war knochenweiß und wie ein Totenschädel; das Opfer lebte also schon lange nicht mehr. Aber es war seine Robe – der Umhang eines Diakons –, die ihn entsetzte. Er konnte durch die Sicht einen Anflug von Blau an der Kleidung ausmachen, und als das Wesen sich umdrehte, schimmerte sogar Gold an seiner Schulter. Es war wirklich das Abzeichen eines Ordens, aber es war ein anmutiger Kreis um fünf helle Sterne, nicht die Faust und das Auge der Neuankömmlinge aus Delmaire. Die Sterne waren das Symbol des einheimischen Ordens, der sich fast siebzig Jahre vor der Ankunft

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