Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
verhielten. Ein Schauer der Furcht lief ihr über den Rücken. Manchmal reagierte die natürliche Welt sehr seltsam auf die Anderwelt. Tiere aller Art waren sich der Bewegungen im Äther deutlich bewusst. Sie presste die Zähne zusammen und ließ ihr Zentrum hinauswandern, aber wieder war da nichts. In den guten alten Tagen wäre sie zuversichtlich gewesen, etwas Gefährliches zumindest spüren zu können. Diese Tage waren jedoch vorüber.
Sie wollte gerade unter Deck gehen und ihren schlafenden Partner wecken, als etwas am Horizont ihre Aufmerksamkeit erregte. Kapitän Tarce hielt gerade einem Matrosen eine Standpauke und war zu beschäftigt, um das Phänomen zu bemerken. Sie ging zu ihm und zog sein Fernglas aus dem Gürtel. Bevor er protestieren konnte, war sie wieder an steuerbord und spähte in die wirbelnde rote Morgendämmerung, in der sich etwas verbarg, das sie mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Ein Blick durch das Glas, und sie brüllte dem Kapitän zu: »Holt meinen Partner herauf – sofort!«
Zum Glück hatte der beständige Umgang mit Diakonen den Kapitän nicht zu einem Verächter der Ordensmitglieder werden lassen. Merrick war in dankenswert kurzer Zeit neben ihr. Durch die Verbindung spürte sie, wie seine Schläfrigkeit sich verflüchtigte. Wortlos reichte sie ihm das Fernglas. Sobald er es vor Augen hatte, bemerkte sie: »Es gibt einfach keine Regeln mehr.«
Mit bloßem Auge konnte Sorcha den aufziehenden Sturm ziemlich gut erkennen, aber mit dem Fernglas würde Merrick sehen, was sie beobachtet hatte: ein Schiff, das vor dem Sturm herlief wie ein von Hunden gehetzter Fuchs.
Jetzt war auch der Kapitän mit von der Partie. Er drückte seinen gewaltigen Bauch gegen die Reling und brachte es fertig, sein Fernglas zurückzuerobern. Als er es absetzte, war sein Gesicht bleich.
»Also ich bin ja kein Seemann«, sagte Sorcha zu ihm, »aber das sieht so aus, als würde der Sturm auf das Schiff zuhalten. Erkennt Ihr es?«
»Die Flagge ist um die Fahnenstange gewickelt, aber … aber …«, stotterte Tarce. »Ein Geistersturm so hoch auf See? Es ist … es ist …«
»Unglaublich?«, fuhr Sorcha ihn an. »Das wissen wir. Vielleicht darf ich vorschlagen, dass wir uns das andere Schiff zum Vorbild nehmen und in einen sicheren Hafen flüchten, falls möglich?«
»Alle Mann an Deck!« Tarce agierte mit einer Geschwindigkeit, die seinen Leibesumfang Lügen strafte. Gleich huschten Matrosen in die Takelage, holten Segel ein und bereiteten sich darauf vor, dem Sturm zu entfliehen. Frachtschiffe fuhren mit möglichst wenig Besatzung, um den Profit zu erhöhen – also würde es knapp werden.
Mitten im Getümmel standen die Diakone und beobachteten das Geschehen am Himmel. Das war kein natürliches Wetterphänomen. Die Wolken waren purpurgrau und wie wütende Fäuste ineinander verschlungen. Im Vergleich dazu wirkte das Fahrzeug, das vor dem Sturm herlief, wie ein Papierschiffchen.
Merrick atmete schaudernd aus. »Ein Geistersturm und kein Land in Sicht – ist denn keine Regel mehr heilig?«
Sorcha musste ihm recht geben. Wer immer die Regeln für die Unlebenden außer Kraft gesetzt hatte, schien den beiden Diakonen zu folgen. Wenn es sich beim Lager der Kesselflicker um einen Hinterhalt gehandelt hatte, wie sie vermutete, dann könnte das hier ein Frontalangriff sein.
Merrick stand stumm an ihrer Seite und sah nach vorn. Sorcha spürte sein Zentrum ausgreifen und teilte seine Sicht. Die Wolken wurden nicht von einem Geist herbeigezogen, doch etwas von der Anderwelt war in ihnen.
»Eine Hexe«, zischte Sorcha. »Der Idiot auf dem Schiff hat Mächte heraufbeschworen, um Wind in den Segeln zu haben.«
»Das scheint ziemlich gut zu funktionieren.«
Sie funkelte ihn an. »Seid Ihr etwa einer dieser närrischen Diakone, Chambers, die glauben, jeder sollte einen kleinen Geschmack von der Anderwelt bekommen?«
Das Achselzucken des jungen Mannes bestätigte ihre Vermutung. Sorchas Ansicht nach sollten Hexen und Zauberer – so nannten sich jene, die nicht von der Abtei ausgebildet wurden oder ausgebildet werden konnten – weiter wie in alten Zeiten verbrannt werden. Angeblich war dieses Zeitalter aufgeklärter, aber wer mit der Anderwelt herumpfuschte, verdiente trotzdem seine Strafe. Diese Leute brachten nichts als Ärger. Die jüngeren Diakone und Novizen waren zunehmend der Ansicht, auch diese Ungebildeten hätten das Recht, nach der Macht zu greifen, und seien den Mitgliedern des Ordens
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