Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
Diakonen im Kloster – wie konnte das geschehen?«
Diese Wahrheit traf sie mehr als die andere, die sie entdeckt hatte. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Unlebenden haben jahrhundertelang bestimmte Verhaltensweisen befolgt, doch in den letzten Tagen weicht ihr Tun davon ab.«
Raed gewann Selbstbewusstsein zurück, als er in seine Hose schlüpfte. »Die Bewohner von Ulrich haben uns hinlänglich gezeigt, wie sie zu den Diakonen stehen. Haben sie auch die
Herrschaft
angegriffen?«
Aachon schüttelte den Kopf. »Bis auf den Hafenmeister haben wir kaum jemanden gesehen, und der wirkte durchaus freundlich.«
»Vielleicht sollten wir ablegen und uns einen anderen Ankerplatz suchen.« Der Prätendent klang völlig erschöpft. Die Verwandlung hatte seiner sterblichen Gestalt viel Energie entzogen. Sorcha wusste, dass er Schlaf brauchte, und zwar bald.
»Ich fürchte, diese Möglichkeit haben wir nicht, mein Prinz.« Aachon führte sie nach achtern und deutete auf die Hafeneinfahrt. Das schwache Mondlicht glitzerte seltsam auf dem Wasser, und Sorcha erkannte erst nach ein paar Sekunden, dass Packeis die Bucht verschloss wie eine Steinmauer.
»Bei den seligen Vorfahren!« Raed schlug frustriert gegen die Reling. »Wie ist das denn passiert? Ulrichs Tiefseeströmungen halten den Hafen doch monatelang offen – auch deshalb sind wir schließlich hergekommen.«
Sorcha kannte die Erklärung und überlegte, sie zu verschweigen. Falls sie jedoch in dieser verfluchten Stadt zusammen festsaßen, waren sie aufeinander angewiesen.
»Geisterstürme haben schon früher Packeis angezogen.« Sie holte tief Luft. »Bei der Belagerung von Eygene haben wir die Flotte des Prinzen damit zerstört …«
Die Männer starrten sie nun durchdringend an. Normalerweise betrachteten die Menschen Diakone voller Vertrauen und Erwartung; daher war sie nicht an diese Skepsis gewöhnt. Hoffentlich würde sich die Besatzung nicht mit dem anstecken, was die Stadtbewohner infiziert hatte.
Infiziert. Das Wort ging Sorcha im Kopf herum. Dem Grauen des Klosters entkommen, begann ihr Verstand zu arbeiten; vielleicht hatte die Anderwelt Ulrich infiziert. In den Lehrbüchern gab es alte Fälle dazu.
Diese Überlegung erforderte eine Zigarre. Sorcha ließ sich auf dem Deck nieder, nahm eine aus ihrem kostbaren Vorrat und öffnete die Sturmlaterne, um sie anzuzünden. Ihre Gefährten schienen eine weitere Erklärung zu erwarten, aber sie war noch nicht so weit, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Stattdessen zog Sorcha an ihrer Zigarre und blies Rauchringe in die Nachtluft.
»Wunderbar!« Raed funkelte sie unter finsteren Brauen an. »Wollt Ihr damit andeuten, jemand hat uns absichtlich hier eingeschlossen?«
»Nicht unbedingt.« Der Prätendent hatte ihren Wink nicht verstanden. »Ich habe ein paar Theorien, möchte sie aber erst äußern, nachdem ich mit Aulis und Chambers geredet habe. Vorläufig schlage ich vor, schlafen zu gehen. Morgen bringen wir dann Eure Mannschaft oben im Kloster in Sicherheit. Ich habe einige Ideen, die ich mit Aulis und Chambers besprechen muss.«
Raed wirkte kurz, als wollte er ihre Zigarre packen und über Bord werfen. Wenn er das täte, würde er sofort hinterherfliegen.
»Also schön.« Er und Aachon wandten sich ab, um ihrem klugen Rat zu folgen, aber als er merkte, dass sie sich nicht rührte, hielt er inne. »Was ist mit Euch, Diakonin Faris?«
Sorcha grinste zurück. »Diakone brauchen doch nur wenig Schlaf. Ich halte heute Nacht Wache.«
Ein verwegenes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, vielleicht weil er sich daran erinnerte, wie wenig Schlaf er auf dem Hügel bekommen hatte. Mit einer angedeuteten Verbeugung überließ der Prätendent sie ihrer Wache und ihrer Zigarre.
Im Hospital hatte sich die Lage beruhigt, aber Merrick konnte sich nicht entspannen. Der Aktive, den er zuvor niedergehalten hatte, war in einen Dämmerzustand verfallen, nachdem Nynnias Vater ihm eine Tinktur verabreicht hatte. Merrick wusste trotzdem nichts mit sich anzufangen.
»Priorin Aulis, wie kann ich helfen?«
Sie wedelte mit der Hand, ohne aufzuschauen. »Tut, was ihr Sensiblen so macht: beobachten. Und gebt mir Bescheid, wenn diese grässlichen Stadtbewohner wieder ans Tor kommen.«
Merrick war einen solchen Ton nicht gewöhnt. Für einen Außenstehenden mochte es scheinen, als wären die Sensiblen die untergeordneten Partner, nicht so schillernd und weniger beschäftigt. Aber sie waren die kalte Hand auf dem heißen Geist
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