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Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)

Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)

Titel: Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippa Ballantine
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Er ließ den Kopf ein wenig hängen, schaltete jedes Körpergefühl aus, verließ sich ganz auf sein Zentrum und spielte diese Momente so langsam wie möglich noch mal ab. Anschließend begann er, die schreienden Gesichter zu zählen, die er in dem Durcheinander gesehen hatte.
    »Wie viele Sensible gab es im Kloster?«, fragte er Nynnia.
    »Zehn«, antwortete sie sofort.
    Ein Ausdruck der Hoffnung breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich habe hier nur neun sterben sehen. Und doch …« Sein Zentrum schoss noch einmal durchs Kloster. »Ich spüre keinen zweiten Sensiblen in der Nähe.« Er hielt inne und legte den Kopf schräg. Er konnte alle Menschen drinnen und draußen wahrnehmen, als würden sie glühen, Städter, Diakone und Laienbrüder. Nicht das kleinste Tier entging seiner Aufmerksamkeit: Die winzigsten Insekten trieben wie schimmernder Staub durch sein Bewusstsein. Unter seinen Füßen aber vermochte er nichts Lebendes zu spüren, rein gar nichts. Als wäre der Bereich seiner Wahrnehmung halbiert.
    »Nynnia« – Merricks Herz begann mit der dämmernden Erkenntnis zu rasen –, »gibt es außer dem Tunnel zur Stadt noch andere Gänge und Räume unter dem Kloster?«
    Sie spürte die Ernsthaftigkeit seiner Frage, begriff aber nicht, warum sie wichtig war. »Ja«, antwortete sie zögerlich. »Als es noch eine Festung war, haben die Felstaads viele davon gebaut.«
    Er konnte nicht einmal das kleinste Wesen dort unten spüren, und dafür gab es nur eine Erklärung: Etwas oder jemand blockierte seine Wahrnehmung. Er griff nach Nynnias Hand. »Zeigt sie mir.«
    Nynnia war an das seltsame Verhalten der Diakone gewöhnt und führte ihn fraglos zum hintersten Ende der Festung. Eine eisenbeschlagene Tür war in die Mauer eingelassen und öffnete sich lautlos, als sie daran zog. Merrick runzelte die Stirn, seine Beobachtungsgabe als Diakon brannte bereits vor Neugier. Die Tür wirkte alt und selten benutzt, doch als er mit den Fingerspitzen über die Angeln fuhr, merkte er, dass sie neu waren.
    Er zögerte einen Moment und vergewisserte sich über seine Verbindung zu Sorcha, dass mit ihr alles in Ordnung war. Seine Ausbildung hieß ihn warten, bis seine Aktive zurückgekehrt war, doch das konnte er sich nicht leisten. Wenn es einen Sensiblen gab, der auf wundersame Weise noch am Leben war, dann waren sie vielleicht nicht sicher. Sollte dieses Wesen zurückkehren …
    Merrick schluckte und rückte seinen Säbel zurecht. Falls es dazu kam, war es sicher um ihn geschehen. »Bleibt hier«, sagte er zu Nynnia.
    »Sollte ich nicht der Priorin Bescheid geben?«
    Er hielt inne und dachte nach. Irgendwie vertraute er nicht darauf, dass die Aktiven des Klosters ihn beschützen konnten. Schließlich hatten sie während der Morgenandacht nicht einmal ihre eigenen Sensiblen retten können. Merrick schüttelte den Kopf. »Wenn ich in einer halben Stunde nicht zurück bin, dann ja, aber ich dürfte klarkommen.«
    Er sah Nynnia an, und obwohl er bisher nicht daran gedacht hatte, sie zu küssen, drängte ihn das, was womöglich dort unten war, zur Tat. Die sanfte Berührung seiner Lippen war beinahe ritterlich, aber er war stolz, diesen Schritt getan zu haben. Seit einigen Jahren hatte er niemanden so geküsst. Und während sie ihn noch erstaunt anschaute, drehte er sich um und stieg die Treppe hinunter. Falls dies sein letzter Eindruck war, sollte er von Dauer sein.

Kapitel 12
Eine Diakonin und ihre Riten
    Der Sonnenaufgang glitzerte auf dem Eis, und Sorcha kauerte noch immer in ihrem Pelzumhang am Heck, ein dunkler Schatten mit kupferrot flammendem Haar. Raed blieb stehen, als er die Treppe zum Achterdeck heraufkam. Sie musste sich seiner Gegenwart bewusst sein, drehte sich aber nicht um.
    Während er sie beobachtete, schnippte Sorcha ihren Zigarrenrest über Bord. »Das war die letzte.« Sie seufzte theatralisch.
    »In meiner Kajüte gibt’s noch welche.« Raed trat hinter sie. »Die hab ich einem Piratenkapitän abgenommen.«
    Sorcha schaute zu ihm hoch. »Gibt es also keine Ehre unter Ganoven?«
    Raed musste lachen. Diese Diakonin war stachlig wie ein Wüstenkaktus. Er lehnte sich an die Reling und sah übers Eis. Es war auf bedrohliche Art schön, wie zerschmettertes, schimmerndes Glas, und es erstreckte sich, so weit das Auge reichte.
    »Jetzt werdet Ihr Euer Schiff vermutlich nicht kielholen.« Sorcha zog eigenartig kindlich die Beine an.
    »Nun, das wäre unter diesen Umständen ziemlich dumm.«
    Sie zuckte die Achseln.

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