Die Runenmeisterin
tertio, müßte er irgendwo in der Umgegend wohnen.
Ad quinto mußte er jetzt Monreals Pferd und Sattellaschen bei sich haben, denn beides hatte er ja wohl mitgenommen.
Custodis hatte alles verhört, was zwei Beine hatte. Jeden Soldaten, jeden Handwerker, jeden Gänsejungen. Aber es war nicht zu fassen, jeder schien jemanden zu haben, der bezeugen konnte, wo er den Morgen verbracht hatte. Die Soldaten hatten Waffenübungen durchgeführt, die Handwerker gearbeitet, das Personal in Haus und Hof ebenso. Und keinem war irgend jemand aufgefallen, der an diesem Morgen für längere Zeit nicht dagewesen wäre. Aber Personal und Handwerker kamen ohnehin nicht in Frage, da keiner von ihnen mit einer schweren Brabanter Armbrust so vortrefflich umzugehen wußte. Der Schütze war ein Meister gewesen. Die Spuren im Sand sprachen eine beredte Sprache. Wer aus dieser Entfernung so genau sein Ziel traf, der mußte ein wahrer Künstler sein.
Raupach war ein solch guter Schütze. Einige der Soldaten, die Offiziere. Aber Raupach war mit seinem Schwiegersohn an diesem Morgen gar nicht hier gewesen, und es gab genügend Menschen, die das bezeugen konnten.
Custodis saß in der Sonne zwischen den Kirschbäumen, die voller reifer Früchte hingen. Er dachte an diese seltsame Geschichte von dem Brief, die ihm Monreals Bursche erzählt hatte. Sein Herr hätte angeblich am Abend vor seiner Abreise einen Brief an Bischof Gero geschrieben, einen Brief, den er bei seiner Ankunft in Köln direkt hatte übergeben wollen. Was hatte ein unbedeutender Offizier mit Bischof Gero zu tun? Was hätte er ihm mitteilen können? Was hatte in dem vermaledeiten Brief gestanden?
Custodis seufzte. Die Kirschen waren rot wie Frauenlippen und saftig, aber sie hingen zu hoch. Er hätte aufstehen müssen, und das wollte er nicht. Die Kirschen über seinem Kopf wurden immer röter und immer saftiger. Er streckte vergeblich die Hand nach ihnen aus. Da hörte er Schritte. Raupach kam über die Wiese gelaufen. »Ach«, sagte Custodis matt, »pflückt mir doch eine Handvoll Kirschen, Ihr steht gerade.«
Raupach warf ihm einen kurzen Blick zu, langte aber in die Äste und holte eine Handvoll Kirschen herunter. Dann sah er Custodis zu, wie er die Kernsteine zielsicher in ein Minzebeet spuckte. »Es gibt da eine Hütte im Wald«, sagte Raupach, »gar nicht weit von hier.«
»Ja?« fragte Custodis und spuckte weiter.
»Dort lebt ein Kräuterweib mit seinem Sohn. Der besitzt eine Armbrust.«
»Ist er ein guter Schütze?«
»Nun ja, mit ein bißchen Glück.«
Custodis wischte sich die Hände an seinem Mantel ab. »Eine Armbrust also. Nicht übel, nicht übel. Wo war er an dem Vormittag?«
»Auf einem Lehenshof, angeblich bei einem Freibauern namens Genno.«
Custodis schloß die Augen vor der Sonne. »Bauern lügen«, meinte er schläfrig, »immer und alle. Ungebildetes Pack. Unkultiviert. Ich mag sie nicht.«
»Darum geht es nicht«, sagte Raupach etwas unfreundlich.
»Wie?« Custodis öffnete die Augen. »Ihr könnt Eure Anklage nicht auf die Aussage eines Bauern stützen. Und wenn Ihr dem Bauern glaubt, daß dieser Junge bei ihm war, warum erzählt Ihr mir davon?«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich dem Bauern glaube. Aber der Junge hat eine Armbrust und hätte leicht an den Tatort gelangen können, ohne ein Pferd besteigen zu müssen.«
Custodis starrte vor sich hin. Und Raupach schwieg. Er wollte sich mit dem herzoglichen Vollstrecker nicht anlegen. Aber Custodis gefiel ihm nicht. Der war nun schon seit Wochen hier, und er wollte ihn so schnell wie möglich wieder loswerden.
ANSUZ
Ã
»Ein viertes kann ich, wenn in Fesseln
man mir die Gelenke legt:
die Weise sing ich, daß ich wandern kann,
es springt das Band mir vom Bein,
die Fessel von der Faust.«
»Der Herzog wünscht eine gründliche Aufklärung des Vorfalls«, tobte Custodis, »ich bin sein Vollstrecker und höre seit Wochen nur Lügen und Geschwätz. Meine Geduld ist am Ende.«
Nachdem Berthold und die anderen wieder nach Raupach zurückgekehrt waren, hatte Custodis sie alle zusammengetrommelt. Er hatte ihnen nicht einmal Gelegenheit gegeben, sich zu waschen und umzuziehen. Als herzoglicher Vollstrecker befahl er ihnen, ihm Rede und Antwort zu stehen. Berthold, wachsbleich vom Ritt, Raupach, Van Neil und der Ire saßen an der langen Tafel und hörten sich unruhig Custodis’ Schimpftirade an.
»Gewiß«, kläffte er in die Runde, »wenn alle einen Zeugen für ihr Tun und ihren Aufenthalt haben,
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