Die Runenmeisterin
daß der Becher leer war, und warf ihn fluchend ins Gebüsch. »Er hat gestanden«, sagte er schroff. »Ihr hättet auch gestanden und ich auch. Das ist doch das Prinzip der Folter, oder nicht?«
Raupach zuckte leicht zusammen. »Ja, aber wir brauchen uns nichts vorzumachen. Ist der Junge wirklich schuldig? Er hat einen Zeugen, der angeblich seine Unschuld beweisen könnte.«
Cai lachte leise. »Auch Zeugen kann man notfalls befragen. Auf die eine oder andere Weise.«
Raupach nickte. »Und wer wird ihn nun – wenn Custodis es anordnet … hängen?«
Der Ire sagte nichts mehr. Er hatte die Augen wieder geschlossen und war ins Gras zurückgesunken.
RAIDO
Ä
»Ein fünftes kann ich,
seh ich feindlichen Speer geschleudert in der Schlacht:
nicht fliegt er so hart, daß ich ihn nicht hemmen könnte,
wenn ich mit dem Aug ihn anschau.«
In Sigruns Hütte hingen getrocknete Pflanzen an den Holzwänden. Schalen und Mörser standen auf einem Regal, eine Schale mit getrockneten Maronen auf dem Tisch. Sigruns Mantel mit den Steinen und dem Katzenfell hing an einem Nagel hinter der Tür. Von der Kohlenpfanne stieg süßlich und schwer der Rauch von Salbei auf. Als Cai eintrat, war es späte Nacht. Er hatte den Weg durch den Wald kaum gefunden.
»Setzt Euch«, sagte die alte Frau und brachte ihm einen Becher. Er zögerte, und sie lachte. Eine Öllampe spendete etwas Licht. Hexen scheuen das Licht, behaupteten die Priester. »Trinkt nur«, meinte Sigrun, »glaubt Ihr, ich wollte Euch vergiften?«
Er mochte die alte Krähe, die ihr geheimes Wissen wie das Ungeborene in einem schwangeren Leib mit sich herumtrug. Er hatte ihren Garten gesehen, der mit einem Seidenfaden umgeben war. In einem mit solchen Kräften ausgestatteten Garten war vieles möglich.
»Dringe niemals in einen fremden Garten ein«, sagte Sigrun, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Das ist ein altes Gesetz Wotans. Es ist so alt wie der Lebensbaum, die Weltesche, die Irminsul. Und so alt wie die Runen.«
Sie setzte sich ihm gegenüber, erzählte ihm von dem Lebensbaum, und allmählich wurden seine Erinnerungen immer deutlicher. In seiner Heimat glaubte man ähnliches, nur hatten die Götter andere Namen und die Runen andere Schriftzeichen. Die Runen, so erzählte die Alte, waren ohne das Modell des Lebensbaums nicht denkbar, denn sie waren stets Teil eines Musters des Baumes. Eine gute Runenmeisterin hatte immer die zehn Zentren des Baumes vor Augen und konnte so die Runen deuten. Sie konnte Verbindungen zwischen den einzelnen Zentren herstellen und auf jede Frage eine Antwort finden. Jedes Zentrum stand für einen besonderen Teil des Menschen, und die mittlere Baumachse symbolisierte den Willen alles Göttlichen. Der Lebensbaum trug die Welt in sich, die Erde und den Kosmos und den einzelnen Menschen, und jede Rune ließ sich in seinem Geäst wiederfinden.
Sigrun stand jetzt auf und griff nach einem Beutel, der an der Wand der Hütte hing. Hölzerne Stäbchen kamen zum Vorschein. Auf den Stäben standen Doppelzahlen, immer zwei und zwei zusammen, die die Verbindung zwischen den Zentren angaben. »Was wollt Ihr von mir wissen, Kelte? Stellt mir eine Frage, und ich werde die Stäbchen werfen.«
Cai Tuam dachte nach. Das Bild Marias erschien plötzlich vor seinem geistigen Auge, und dann wußte er auch, was er fragen wollte. »Erzählt mir etwas über die Herrin Maria«, sagte er.
Sigrun breitete ein Tuch über dem Tisch aus und ließ die Stäbe fallen. Dann nahm sie scheinbar wahllos fünf der Stäbe auf und legte sie vor sich auf den Tisch.
»Dies ist nur eine Möglichkeit, das Orakel zu befragen«, erklärte sie, griff eines der Stäbchen auf und betrachtete es eingehend. Nahm das nächste, dann das dritte, bis sie alle fünf vor sich liegen hatte. Dann räumte sie die Stäbe wieder zusammen, verstaute sie in dem Beutel und nahm einen zweiten. Sie schüttete den Inhalt auf den Tisch.
Kleine Steine fielen heraus, auf einer Seite mit den Runen beschriftet. Sie strich die Steine mit einer flüchtigen Geste glatt und sortierte die, die mit dem Gesicht nach unten lagen, aus. Warf die anderen, die übriggeblieben waren, ein zweites Mal und sortierte wieder aus. Das ging so lange, bis nur noch eine einzige Rune übrig war. Die Rune sah aus wie ein Pfeil, der nach oben weist.
»T EIWAZ «, sagte Sigrun lächelnd und legte dem Iren den Stein in die Hand. »Sie hat die Form der Irminsul, der Weltesche. Erkennst du die Form eines Baumes darin? Eure Herrin
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