Die Runenmeisterin
Vögel war es völlig still.
Cai Tuam stieg ab und führte sein Pferd am Zügel. Hatte er sich getäuscht, den Blick der Frau mißverstanden? In diesem Wald war nichts, außer einem einsamen Reiter mit seinem Pferd. Doch dann sah er sie, die Hütte. Aus Holzstämmen gebaut, lag sie da auf einer Lichtung. Der Ire trat näher. Wie bei Anna blühte auch hier die Angelika in riesigen Büscheln, und Schwärme von Bienen hatten sich um die grüngelben Blüten gesammelt. Er band sein Pferd an einem Baum fest. War dies die Hütte der Runenmeisterin? Er klopfte an die Tür. Aber niemand öffnete. Statt dessen hörte er plötzlich Schritte. Jemand kam um die Hütte herum.
Es war eine alte Frau in einem seltsamen Mantel, die starrte ihn an aus schwarzen Zigeuneraugen, das graue Haar aufgesteckt. Ihr brauner Mantel war mit weißem Fell gefüttert, und überall an ihm hingen sonderbare kleine Steine mit merkwürdigen Ritzzeichen darauf. »Was wollt Ihr?« fragte sie schroff.
Er schwieg verwirrt. Ja, was wollte er hier? Er spürte, daß er dem, was er gesucht hatte, ganz nahe war. Er witterte es wie ein Tier. Diese Frau war keine Christin. Sie war ein Wesen aus der alten Zeit. Sie war der Spiegel, den er gesucht hatte. »Ihr seid die Runenmeisterin?«
Sie beäugte ihn wie ein bizarres Insekt. »Woher wißt Ihr das? Wer seid Ihr überhaupt?«
Er erklärt, wer er ist. Woher er kommt. Daß er ihren Garten gesehen hat und die junge Frau zum Kloster gebracht. Er hört gar nicht mehr auf zu reden, zu erklären. Spricht von seiner Heimat, von seinem Großvater und gibt alles preis. Zu guter Letzt stammelt er eine Entschuldigung.
Da öffnete sich der Alten das Gesicht, und sie lächelte. »Ein heidnischer Novize, hm? Ich habe von diesen keltischen Priestern gehört, aber es gibt sie nicht mehr. Und du? Bist du getauft?«
»Ja, aber als ich Euren Garten sah, habe ich mich wieder erinnert. Ihr deutet das Orakel, nicht wahr? Wir in Irland haben ähnliche Steine.«
»Komm«, sagte die Frau, »setz dich zu mir.« Sie ging in die Hütte und kam mit zwei geflochtenen Stühlen heraus. »Ich habe nicht oft Besuch. Ich gehe zu den Leuten und deute ihnen die Runen. Wie in alten Zeiten. Und die Frau, die du ins Kloster gebracht hast, war meine Tochter. Sie mag meine Art zu leben nicht. Immer in Angst vor den Spitzeln der Kirchenmänner. Sie hassen uns. Für sie sind wir Hexen, die schwarze Magie betreiben. Wir sind die quälende Erinnerung an ihre verlorenen Schatten, als das Leben noch Leben war, Lust noch Lust, die Götter noch Menschen und die Menschen noch Götter. Jetzt ist alles grau und trist, junger Mann, Lust und Leben eine Sünde, und Gott so unnahbar, daß ihn niemand mehr sehen kann. Ein trauriger Glaube ist das, da gibt es nichts mehr zu lachen und nichts zu leiern. Ich bin Sigrun, junger Mann, die Rune des Sieges, aber auch die Rune des Blitzes und der zerbrochenen Lanze. Ich bin die letzte Runenmeisterin der Sachsen.«
Er hörte ihr fasziniert zu. War es das, was er gesucht hatte? Dieses alte Weib mit seinen alten Steinen? Diesen verstohlenen Blick in seine eigne Vergangenheit, die er längst gebannt glaubte?
»Die Zeit der Runenmeister ist vorbei«, sagte Sigrun bitter, »Avenaar ist ins Kloster geflüchtet, weil sie von Gott geläutert werden will. Sie hält ihre eigene Mutter für eine Hexe. Rosalie, meine zweite Tochter, ist noch bei mir. Ich unterweise sie in der Kunst des Runenlesens, aber ich fürchte, sie hat keine Zukunft, das arme Kind.«
»Und der Vater?« fragte der Ire.
Sigrun lächelte. »Oh, einen Vater gibt es, aber der ist lange fort. Er war nie sehr wichtig. Ihr wißt doch, Kelte, daß es eine Zeit gab, wo Väter keine besondere Bedeutung hatten. Das war die Zeit der Wanen, der alten Zauberwesen, aus deren Geschlecht wir stammen … Ich weiß, daß ich den Augen der Büttel nicht mehr lange entgehen kann, auch wenn ich hier in der Einsamkeit des Waldes lebe. Aber solange ich den Menschen das Orakel lese, braucht nur einer mich zu verraten, und sie werden mich holen kommen. Für sie liegt die Zukunft in Gottes Hand, nicht in den Runen.«
»Ihr seid mutiger, als ich es war«, sagte der Ire leise, »ich habe damals mein Versprechen gebrochen, und statt Priester bin ich Soldat geworden. Ich wollte kein Leben im Untergrund führen. Das einzige, was von dem erlernten Wissen übriggeblieben ist, ist die Kenntnis der Heilkunst und der Kräuter. Als ich Euren Garten sah …«
Die Alte lachte. »Ja, man kann
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