Die russische Gräfin
extremer Anteilnahme. Bis ins Detail beschrieb er ihr aschfahles Gesicht, ihre erhabene Würde, ihre noble Zurückhaltung, weil sie sich weigerte, anderen Schuld zuzuweisen und die Emotionen der Menge für sich auszunutzen. Rathbones Hände fingen an zu zittern. Es war frustrierend! Diese Frau hatte ihre Rolle phantastisch gespielt. Ob es sich so ergeben oder sie es so geplant hatte, sie war die geborene Schauspielerin.
Rathbones eigene Versuche, die Situation auszuloten, bezeichnete der Reporter als verzweifelt. Das stimmte zwar, aber Rathbone hatte gehofft, es würde nicht so auffallen. Doch wenigstens eins beflügelte seine Hoffnung: Kategorisch wurde die Aufdeckung der vollen Wahrheit über die genaue Ursache von Friedrichs Tod gefordert.
Mit trockenem Mund und pochendem Puls überflog er den Rest. Was die Erläuterung der politischen Situation betraf, ließ der Artikel nichts zu wünschen übrig. Der Konflikt zwischen Einheit und Unabhängigkeit wurde genauso analysiert wie die Interessen der betroffenen Länder, die Gefahr eines Krieges, die Parteien und der Machtkampf. Sogar auf die Revolutionen des Jahres 1848 wurde verwiesen.
Die Reportage endete mit einem Lob auf das britische Rechtswesen und der Forderung nach vollständiger Aufklärung. Falls Prinz Friedrich tatsächlich ermordet worden sei, müsse die Wahrheit ans Licht gebracht werden, und sei sie noch so schwer zu ermitteln und schmerzhaft. Ein derart verabscheuungswürdiges Verbrechen dürfe nicht aus bloßer Rücksicht auf die Betroffenen, wer immer sie auch sein mochten, unter den Teppich gekehrt werden.
Rathbone legte die Times beiseite und wandte sich dem nächsten Blatt zu. Dieses legte den Schwerpunkt mehr auf den menschlichen Aspekt und wiederholte seinen Aufruf vom Vortag, wonach bei allen Emotionen um Politik und Mord nicht außer acht gelassen werden dürfe, daß es um eine Verleumdungsklage gehe. In einer Zeit tiefster Trauer sei eine so vornehme wie tragische Frau eines der schlimmsten Verbrechen bezichtigt worden. Das Gericht sei nicht nur dazu da, um die Wahrheit zu ermitteln, sondern auch und vielleicht vor allem, um die Rechte und den guten Namen der Unschuldigen zu schützen.
Harvester hätte nicht mehr gedient sein können, wenn er den Kommentar selbst geschrieben hätte. Ernüchtert legte Rathbone die Zeitung beiseite. Er stand immer noch am Anfang.
Die Morgenpost, darunter eine Note vom Lord Chancellor, konnte seine Stimmung auch nicht gerade verbessern.
Mein lieber Sir Oliver, darf ich Sie zu dem Takt beglückwünschen, mit dem Sie einen äußerst schwierigen und heiklen Fall behandelt haben? Wir müssen hoffen, daß die erdrückende Beweislast die unselige Beklagte doch noch zu einer Rücknahme ihrer Beschuldigung veranlaßt.
Gleichwohl wurde ich im Palast von bestimmten Personen, die begründete Interessen an der Aufrechterhaltung unserer guten Beziehungen mit Festlandeuropa haben, insbesondere mit unseren Verwandten in Deutschland, gebeten, Sie auf die Besonderheit dieser Situation hinzuweisen. Meiner Überzeugung nach werden Sie zu verhindern wissen, daß Ihre Mandantin die Würde und Ehre des gegenwärtigen Königshauses von Felzburg in diesen Fall mit hineinzieht. Und selbstverständlich habe ich den betreffenden Herren geantwortet, daß alle Sorgen diesbezüglich jeder Grundlage entbehren.
Ich wünsche Ihnen weiterhin Geschick bei der Verhandlung in dieser leidigen Angelegenheit.
Mit freundlichen Grüßen Unterzeichnet war der Brief mit dem Namen, nicht aber mit dem Titel des Lord Chancellors.
Rathbone ließ ihn mit zitternden Händen sinken. Der Appetit war ihm gründlich vergangen.
Zum Auftakt des zweiten Verhandlungstages rief Harvester Dr. Gallagher in den Zeugenstand. Rathbone fragte sich, ob er die Vernehmung des Arztes auch schon geplant hatte, bevor gestern der konkrete Mordverdacht geäußert wurde. Vielleicht hatte er aber die Reaktion der Zeitungen vorhergesehen und sich entsprechend vorbereitet. Nervosität verriet er jedenfalls nicht. Allerdings war er ein zu guter Schauspieler, um sich anmerken zu lassen, was er lieber für sich behielt.
Gallagher dagegen wirkte extrem unruhig. Etwas unbeholfen kletterte er die Stufen zum Zeugenstand hinauf und stolperte über die letzte. Vor einem Sturz bewahrte ihn nur das Geländer.
Als er den Eid leistete, mußte er husten. Eigentlich tat er Rathbone leid. Wahrscheinlich war er auch schon während der Behandlung von Prinz Friedrich nervös gewesen. Bei einem
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