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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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so schweren Reitunfall mit ungewisser Prognose hatte er wohl von Anfang an damit rechnen müssen, den Patienten zu verlieren und für seine Unfähigkeit, Wunder zu vollbringen, verantwortlich gemacht zu werden. Und anders als ein Krankenhausarzt war er völlig auf sich allein gestellt gewesen. Im nachhinein wünschte er sich bestimmt, er hätte einen Kollegen zu Rate gezogen, mit dem er dann auch die Schuld hätte teilen können, wenn es denn eine gegeben hätte.
    Schon vor der Vernehmung bildeten sich Schweißtropfen auf seiner kalkweißen Stirn.
    »Dr. Gallagher«, begann Harvester und schritt bis zur Mitte der freien Fläche. »Es tut mir leid, daß ich Sie vorladen mußte, aber Ihnen sind sicher die Beschuldigungen bekannt, die, sei es in böswilliger Absicht oder aus tiefer Überzeugung heraus, in Zusammenhang mit dem Tod von Prinz Friedrich erhoben wurden. Da sie nun mal vor aller Welt geäußert wurden, dürfen wir sie nicht unbeantwortet lassen. Wir müssen die Wahrheit herausfinden, doch dazu sind wir ohne Ihre vollständige Aussage nicht in der Lage.«
    Gallagher setzte zu einer Antwort an, mußte aber auf einmal husten. Er hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, das er auch dann nicht aus der Hand gab, als der Hustenanfall vorbei war.
    »Armer Mann«, flüsterte Zorah Rathbone ins Ohr. Es war ihr erster Kommentar zu einem Zeugen.
    »Ich verstehe, Sir«, murmelte Gallagher schließlich. »Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun.«
    »Dessen bin ich mir auch sicher.« Harvester stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor ihm – seine Lieblingspose, wie Rathbone inzwischen wußte. »Ich muß Sie noch einmal zum Unfall zurückführen. Sie wurden zum verletzten Prinzen gerufen.« Das war eine Feststellung; jeder kannte die Antwort. »Wo lag er, und in welchem Zustand fanden Sie ihn vor?«
    »Er war in seiner Suite in Wellborough Hall«, antwortete Gallagher mit starrem Blick. »Er lag auf einem Brett, das man hinaufgebracht hatte, weil alle befürchteten, im weichen Bett könnten seine Knochen zusätzlichen Schaden nehmen. Der arme Mann war bei vollem Bewußtsein und litt unter Schmerzen. Ich glaube, er hatte Beruhigungsmittel abgelehnt.«
    Rathbone sah Zorah an. Mit versteinerter Miene verfolgte sie die Vernehmung, als wäre der Unfall eben erst passiert. Voller Sorge forschte Rathbone weiter nach Spuren eines schlechten Gewissens, vermochte jedoch keine zu entdecken. Dann drehte er sich zu Gisela um. Ihr Gesicht verriet keinerlei Leben, keine Anteilnahme, keine Angst. Man konnte tatsächlich meinen, ihre Gefühle wären abgestorben.
    »Das hat er in der Tat«, sagte Harvester düster. »Wirklich eine schlimme Sache. Wie lautete Ihre Diagnose, Dr. Gallagher?«
    »Mehrere Rippen waren gebrochen, ebenso das rechte Schlüsselbein. Das rechte Bein war zerschmettert – drei komplizierte Brüche.«
    »Innere Verletzungen auch?« Harvester zeigte sich so betroffen, als wären die Sorgen so akut wie damals. Das Publikum gab mit lautem Gemurmel seinem Entsetzen und Mitleid Ausdruck.
    Zorahs Reaktion bekam Rathbone aus nächster Nähe mit. Ihre Röcke fingen an zu rascheln, als ihr ganzer Körper sich verspannte und das Entsetzen und die Ungewißheit von damals zurückkehrten. Rathbone wollte sie nicht schon wieder ansehen, aber er tat es unwillkürlich doch. Ihr markantes Gesicht mit der zu langen und zu breiten Nase, den halb geschlossenen grünen Augen und den geöffneten Lippen verriet deutlich, wie aufgewühlt sie war.
    Er hatte immer noch keine Ahnung, wieviel sie wußte, ob sie Friedrich geliebt hatte oder ob er ihr nur leid tat. Sie war genauso rätselhaft wie damals, als er sie kennengelernt hatte. Es war zum Verzweifeln mit ihr. Wahrscheinlich war sie mehr als nur ein bißchen verrückt, und trotzdem konnte er keine Schurkin in ihr sehen noch sie ablehnen.
    Gallaghers Stimme riß ihn wieder aus seinem Sinnieren.
    »Natürlich ist es unmöglich, das mit Bestimmtheit zu sagen«, erklärte der Arzt verlegen. »Er schien über den Berg zu sein, zumindest was seinen allgemeinen Zustand betraf. Allerdings wäre er wohl zeitlebens körperbehindert geblieben.« Er holte tief Luft. »Jetzt sieht es aber so aus, als hätte ich etwas übersehen. Vielleicht ist bei einer Bewegung oder bei einem Hustenanfall etwas gerissen. Manchmal reicht auch schon ein heftiges Niesen aus.«
    Harvester nickte. »Aber die Symptome, die Sie beobachtet haben, stehen in Einklang mit den Folgen von Verletzungen, wie er sie

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