Die russische Gräfin
nicht.«
Harvester sprang auf. »Also wirklich! Will mein gelehrter Freund etwa eine Art Attentat unterstellen? Das ist doch kompletter Unsinn! Wer soll es denn verübt haben? Prinzessin Giselas angebliche Feinde etwa? Sie ist doch diejenige, die von seiner Mandantin beschuldigt wurde!« Er deutete mit verächtlicher Geste auf Zorah. »Er will uns nur Sand in die Augen streuen!«
Der Richter legte die Stirn in Falten. »Sir Oliver? Was genau wollen Sie von der Zeugin erfahren?«
»Ob es möglich ist, daß den Vorwürfen und Gegenvorwürfen hochbrisante politische Fragen zugrunde liegen, Euer Ehren! Es ist nun einmal so, daß das Schicksal eines kleinen Landes die Emotionen ausgelöst hat, die wir heute hier untersuchen, und nicht bloß eine seit langem bestehende Rivalität zwischen zwei Frauen, die einander hassen.«
»Eine solche Frage kann die Zeugin unmöglich beantworten, Euer Ehren!« warf Harvester dazwischen. »Sie ist nicht in die Gedankengänge und Motive der Gräfin Rostova eingeweiht. Das ist meiner Meinung nach niemand, mit Verlaub, vielleicht nicht einmal Sir Oliver.«
»Euer Ehren«, sagte Rathbone ruhig, »Gräfin von Seidlitz ist eine kluge Frau mit politischem Scharfsinn, die einen Großteil ihrer Zeit in Venedig und Felzburg verbringt. Ihr Gatte hat beträchtliche Interessen in vielen Teilen von Deutschland und kennt die nationalistischen Bestrebungen beziehungsweise die Aussichten für Vereinigung respektive Unabhängigkeit aus erster Hand. Er ist vertraut mit vielen mächtigen Männern des ganzen Landes. Darum ist die Gräfin sehr wohl politisch gebildet; ihre Meinung kann nicht ohne weiteres abgetan werden. Abgesehen davon habe ich sie gefragt, ob sie ein politisches Motiv für möglich hält, und nicht, ob sie die Gedanken der Gräfin Rostova kennt.«
»Sie dürfen die Frage beantworten«, sagte der Richter. »Ist Ihrer Meinung nach ein politisches Motiv in dieser tragischen Angelegenheit denkbar? Mit anderen Worten: Gibt es politische Themen, die vom Tod des Prinzen oder den Ereignissen in diesem Gerichtssaal berührt werden könnten?«
Evelyn war anzusehen, wie unbehaglich sie sich fühlte, aber sie konnte es nicht leugnen, ohne das vorher Gesagte zu entwerten und sich so der Lächerlichkeit preiszugeben.
»Natürlich gibt es politische Themen«, räumte sie ein.
»Friedrich hatte abgedankt, aber er war immer noch ein Prinz.« Rathbone wagte nicht, weiter in sie zu dringen. »Danke« , sagte er lächelnd, als hätte er etwas Bedeutendes zu Tage gefördert und kehrte zu seinem Pult zurück. Er sah Harvester belustigt grinsen und spürte Zorahs neugierigen Blick auf sich. Die Zuschauer wurden unruhig. Sie wollten mehr Drama, mehr Leidenschaft.
Am Nachmittag kamen sie endlich auf ihre Kosten. Harvester rief Gisela auf. Mit einem Mal konnte man förmlich hören, wie die Leute den Atem anhielten. Niemand sprach. Niemand wagte sich zu bewegen, als Gisela aufstand, das Parkett überquerte und die Stufen zum Zeugenstand erklomm. Als jemand das Gewicht verlagerte, knarrte ein Stuhl. Eine Korsettstange klapperte. Einer Dame fiel die Tasche aus der Hand, und auf einmal war das Klimpern von sich über den Boden ergießenden Münzen zu hören.
Einer der Geschworenen nieste.
Zorah musterte Rathbone kurz und sah wieder weg. Sie sagte kein Wort.
Gisela stand ihnen nun direkt gegenüber. Zum erstenmal konnte Rathbone sie anschauen, ohne wie ein Gaffer zu wirken. Hinter dem Gitter des Zeugenstands schien sie mit ihren schmalen Schultern noch kleiner zu sein, ihr Kopf mit der breiten Stirn und den dichten Augenbrauen dagegen wirkte eher eine Spur größer. Niemand konnte leugnen, daß ihr Gesicht auf eine starke Persönlichkeit hinwies, auch wenn seine Schönheit vielleicht mit viel Kunst und Raffinesse hervorgehoben worden war. Sie sah Harvester mit stetem Blick in die Augen und wartete, daß er das Wort an sie richtete. Doch zuerst mußte sie ihren Eid leisten. Sie sprach mit leiser und sehr angenehm klingender Stimme. Man konnte hören, daß sie die englische Sprache mühelos beherrschte und kaum einen Akzent hatte.
Harvester hatte sich offenbar über die angemessene Anredeform informiert und behandelte sie folglich der Etikette entsprechend nicht wie eine Kronprinzessin, die sie ja auch nie gewesen war.
»Madam«, begann er mit gedämpfter Stimme, die zugleich sein Beileid und seine Hochachtung vor ihrem legendären Ruf ausdrückte. »Wir haben vor diesem Gericht Aussagen gehört , wonach
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