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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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solchen Beruf hätte er, Rathbone, nie ergriffen. Er setzte sich weitaus lieber mit den Sorgen derer auseinander, die sich ungerecht behandelt fühlten. Sein Kampf fand vor dem – wenn auch höchst komplizierten – Gesetz statt, und er hatte immer die Chance zu gewinnen.
    »Ich glaube, jeder hier kann sich Ihr Dilemma ausmalen, Doktor«, sagte er voll aufrichtiger Hochachtung. »Wir müssen dankbar sein, daß wir nicht an Ihrer Stelle waren. Was geschah weiter?«
    »Prinz Friedrich wurde zusehends schwächer. Die Schmerzen schienen sich zu legen, aber er verfiel in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Er starb um Viertel vor vier am Nachmittag.«
    »Und aus dem, was Sie beobachtet und schon vorher gewußt hatten, schlossen Sie, daß er an inneren Blutungen gestorben war?«
    »Ja.«
    Rathbone nickte. »Angesichts der Umstände, wie sie sich Ihnen boten, eine natürliche Schlußfolgerung. Aber sagen Sie, Dr. Gallagher, lassen die Symptome aus heutiger Sicht nicht auch einen anderen Schluß als innere Blutungen, nämlich Vergiftung, zu? Durch die Rinde oder die Blätter eines Eibenbaumes zum Beispiel?«
    Den Zuschauern stockte der Atem. Jemand gab einen unterdrückten Aufschrei von sich. Einer der Geschworenen starrte Rathbone bestürzt an.
    Zorah rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.
    Gisela blieb wie immer regungslos. Ihr weißes Gesicht hatte nichts Lebendiges an sich. Es erinnerte eher an eine Marmorstatue.
    Rathbone steckte die Hände in die Taschen und bedachte den Zeugen mit einem bekümmerten Lächeln. »Falls Sie Ihre Kenntnisse der Symptome in der letzten Zeit nicht auffrischen konnten, lassen Sie sie mich bitte – nicht für Sie, aber für dieses Gericht – aufzählen. Es sind dies Schwindel, Durchfall, Erweiterung der Pupillen, Magenschmerzen und Erbrechen, allgemeine Schwäche, Blässe, Krämpfe, Koma und Tod.«
    Gallagher schloß die Augen, und Rathbone glaubte ein leichtes Schwanken zu bemerken.
    Der Richter starrte ihn an.
    Einer der Geschworenen verbarg den Mund hinter der Hand. Gisela verriet weiter keinerlei Regung.
    Eine Zuschauerin weinte leise vor sich hin.
    Zorah wirkte unendlich bestürzt. Erlebte sie von neuem all das Leid und die Trauer, die sie damals empfunden hatte?
    »Er hatte keinen Durchfall«, sagte Gallagher langsam. »Es sei denn, er war vor meinem Eintreffen eingetreten und mir verschwiegen worden. Auch sah ich keine Krämpfe.«
    »Und eine Erweiterung der Pupillen?« Rathbone wagte fast nicht zu atmen. Sein Puls raste auf einmal.
    »Ja…« Gallaghers Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er mußte wieder husten. »Ja, die Pupillen waren geweitet.«
    »Und ist das ein Symptom bei Verbluten?« Rathbones Frage enthielt keinerlei verschlüsselte Kritik. Der Verzicht darauf fiel ihm nicht schwer, denn er war sicher, daß jeder Arzt zu der gleichen Diagnose gekommen wäre wie Gallagher.
    Der Zeuge stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nein, das ist es nicht.«
    Die Zuschauer schnappten nach Luft. Dann herrschte wieder Stille.
    Der Richter biß die Lippen aufeinander und beobachtete Rathbone aufmerksam.
    »Dr. Gallagher«, Rathbone brach das gebannte Schweigen , »sind Sie immer noch der Meinung, daß Prinz Friedrich infolge innerer Blutungen, ausgelöst durch seinen Sturz, starb?«
    Die Geschworenen hefteten die Blicke erst auf Gisela, dann auf Zorah.
    Zorah ballte die Faust und rutschte weiter vor.
    »Nein, Sir, das bin ich nicht mehr«, antwortete Gallagher.
    Ein Aufschrei gellte durch den Saal. Offenbar war eine Frau in Ohnmacht gefallen. Mehrere nahe beieinander sitzende Leute sprangen auf und machten eilig Platz.
    »Sie braucht Luft!« bellte ein Mann.
    »Hier, ich habe Riechsalz«, erbot sich eine Frau.
    »Verbrennt eine Feder!« forderte jemand. »Und der Gerichtsdiener soll Wasser bringen!«
    »Brandy! Hat jemand eine Flasche Brandy dabei? Oh, danke, Sir.«
    Der Richter wartete, bis die Frau verarztet war, dann gestattete er Rathbone die Fortsetzung des Verhörs.
    »Danke, Euer Ehren«, sagte der Anwalt und wandte sich wieder an die Zeugen. »Können Sie uns nach bestem Wissen die Todesursache angeben, Dr. Gallagher? Uns ist selbstverständlich bewußt, daß Sie so lange danach und ohne eine weitere Untersuchung nur noch Vermutungen anstellen können.«
    Die Aufregung im Saal legte sich abrupt. Die ohnmächtige Frau war schon wieder vergessen.
    »Ich… könnte mir vorstellen, daß es Eibengift war«, ächzte Gallagher. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich das

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