Die russische Gräfin
um seine Familie heute taten gleichermaßen weh.
»Keine Frau der Welt könnte ein Kind mehr lieben.«
»Das bezweifeln wir nicht, Sir«, sagte Rathbone leise. »Und auch nicht die Schmerzen, die Sie damals und heute durchlitten haben müssen. Aber trifft auch Graf Lansdorffs Behauptung zu, daß Gisela Berentz das Kind zerstören wollte«, er benutzte den Ausdruck ›zerstören‹ bewußt, was ihm um so leichter fiel, da er noch Hesters Schilderung von Robert Ollenheim im Ohr hatte , »aber von Ihnen gezwungen wurde, es auszutragen?« Ohrenbetäubende Stille herrschte im Saal.
»Ja«, flüsterte Bernd.
»Ich möchte Sie noch mal um Verzeihung bitten, daß wir Ihre Gefühle ans Licht gezerrt haben, die eigentlich niemanden etwas angehen«, entschuldigte sich Rathbone. »Und ich versichere Ihnen und Ihrer Familie meine aufrichtige Hochachtung. Ich habe keine weiteren Fragen an Sie. Wenn Mr. Harvester nicht noch etwas wissen will, können Sie gehen.«
Harvester stand auf. Er wirkte bei weitem nicht mehr so zuversichtlich. »Nein, danke. Ich glaube nicht, daß Baron Ollenheim uns etwas Relevantes zum zur Verhandlung stehenden Fall zu sagen hat.«
Es war ein tapferer Versuch, das Gericht daran zu erinnern, daß Gisela Zorah wegen Verleumdung angezeigt hatte. Inzwischen kümmerte sich freilich niemand mehr darum. Jetzt ging es um Gefühlskälte, Abtreibung und Mord.
Nach der Vertagung brachen Tumulte aus. Die Polizei mußte geholt werden, um Gisela zu ihrer Kutsche zu eskortieren und vor dem Volkszorn zu schützen, der ihr weitaus vehementer und bedrohlicher entgegenbrandete als gestern noch Zorah. Sie wurde beschimpft und mit Unrat beworfen, und einige schleuderten sogar Steine nach ihr. Als ein Stein über das Dach schlitterte und gegen die nächste Hauswand prallte, bekam es der Kutscher mit der Angst zu tun. Er schrie zurück und schlug mit der Peitsche nach den Zudringlichsten.
Rathbone brachte Zorah durch einen Nebenausgang in Sicherheit. Er fürchtete, daß sich der Zorn auch wieder an ihr entladen würde. Sie war schließlich diejenige gewesen, die all die Träume um Gisela herum zum Platzen gebracht hatte, und würde zeitlebens dafür gehaßt werden.
Robert Ollenheim hatte seine Eltern gebeten, ihn wenigstens eine Stunde allein zu lassen. So saß auf dem Heimweg nur Hester neben ihm in der Kutsche. Dagmar und Bernd hatten stumm und hilflos zugesehen, wie der Diener Robert auf den Sitz gehievt und dann Hester beim Einsteigen geholfen hatte.
Robert starrte regungslos nach vorne, als die Pferde den Schritt beschleunigten und durch das Gewühl auf den Straßen trabten. »Es ist nicht wahr!« stieß er ein ums andere Mal mit aufeinandergepreßten Zähnen hervor. »Es ist nicht wahr! Diese … Frau… ist nicht meine…« Er brachte das Wort ›Mutter‹ nicht über die Lippen.
Hester legte die Hand auf die seine. Durch die Decke über seinen Beinen und Armen hindurch spürte sie, wie er eine Faust geballt hatte. Es war kalt in der Kutsche, und ausnahmsweise hatte er nicht protestiert, als man ihn eingewickelt hatte.
»Das ist sie auch nicht«, gab sie ihm recht.
»Was?« Er drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen. »Haben Sie nicht gehört, was mein Vater gesagt hat? Er hat gesagt, daß diese Frau… diese Frau…« Er holte ruckartig Luft. »Sogar vor meiner Geburt schon wollte sie mich nicht haben! Sie wollte mich… zerstören!«
»Sie ist in keiner Weise, die etwas zählen würde, Ihre Mutter«, sagte Hester ernst. »Dieses Recht hat sie verwirkt. Dagmar Ollenheim ist Ihre Mutter. Sie hat Sie aufgezogen, geliebt und immer gewollt. Sie sind ihr einziges Kind. Denken Sie nur an all die Jahre zurück, in denen sie immer für Sie da war, dann wissen Sie, wie sehr sie Sie liebt. Haben Sie je daran gezweifelt?«
»Nein…« Sein Atem ging immer noch nur stoßweise, als presse ihm etwas die Brust zusammen. »Aber trotzdem ist diese andere… Frau meine Mutter! Ich bin ein Teil von ihr!« Er starrte Hester mit vor Schmerz weit aufgerissenen Augen an.
»Ich bin ihr Sohn! Das läßt sich nicht ändern. Ich kann es nicht vergessen! Ich bin aus ihr hervorgegangen! Ich bin ihr Fleisch und Blut!«
»Sie sind aus ihr hervorgegangen, aber der Rest stimmt nicht. Ihr Fleisch und Blut gehören nur Ihnen allein, genauso wie Ihr Verstand und Ihre Seele.«
Ein weiterer entsetzlicher Gedanke streifte ihn. »O Gott! Was wird Victoria nur von mir denken? Sie wird es erfahren! Wenn sie es nicht in
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