Die russische Gräfin
Anfang September. Die Stoppelfelder erstreckten sich bis in den Horizont, das Laub der Kastanien fing an, sich zu färben, und hier und da zeigte die feuchte dunkelbraune Erde frisch umgepflügter Äcker an, daß sie für die Herbstaussaat bereit war.
Wellborough Hall war ein weitausladender Bau im klassischen Stil der Zeit von König George. Zu erreichen war er über eine gut eine Meile lange Ulmenallee quer durch eine herrliche Parklandschaft, die in einen Wald überging, und dahinter erstreckten sich offene Felder. Man konnte sich unschwer ausmalen, wie die Eigentümer solcher Ländereien fürstliche und königliche Hoheiten bewirtet hatten und mit ihnen durch diese Idylle geritten waren, bis eine Tragödie das Glück jäh beendet und sie an die eigene Vergänglichkeit erinnert hatte.
Monk hatte Stephan von Emden aufgesucht, der ihm bereitwillig jede erdenkliche Hilfe anbot und gerne dafür sorgen wollte, daß die Wellboroughs ihn als seinen ›Freund‹ mit auf ihren Landsitz einluden. Es faszinierte ihn, daß Ermittlungen angestellt werden sollten, und Monk selbst, dessen Leben sich in allem von dem seinen unterschied, interessierte ihn. Bei diesem ersten Gespräch machte er Monk auch darauf aufmerksam, daß man mit dem Treffen in Wellborough Hall beabsichtigte, die jeweiligen Versionen zur Vorgeschichte von Friedrichs Tod aufeinander abzustimmen, falls es zu einem Prozeß kommen sollte.
Monk fühlte sich unbehaglich, derart aus allernächster Nähe beobachtet zu werden. Zugleich wurden ihm während der gemeinsamen Reise seine Vorurteile gegen die Adeligen eindringlich bewußt. Anders als er angenommen hatte, war Stephan weder engstirnig noch unpraktisch. Im Gegenteil – und Monk nahm sich seine Vorurteile zu Herzen. Er versuchte, sich als Gentleman zu geben, begriff aber, daß wahre Gentlemen nicht so schnell empfindlich reagierten und nicht unter allen Umständen auf ihre Würde achteten – sie hatten es schlichtweg nicht nötig.
Es ärgerte Monk, daß er sich von bornierten Vorurteilen hatte leiten lassen, wo er doch nichts so sehr verabscheute wie Ungerechtigkeit, vor allem wenn sie auch noch mit Dummheit gepaart war.
Als sie in der prächtigen Einfahrt ankamen und aus der Kutsche stiegen, nahm sie ein livrierter Diener in Empfang. Monk wollte schon selbst nach seinen sorgfältig gepackten Koffern greifen, als ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, daß dafür ja die Bediensteten zuständig waren und man sich mit so etwas nicht abgab. Ein Gentleman spazierte einfach ins Schloß, in vollem Vertrauen darauf, daß seine Sachen in sein Zimmer gebracht, ausgepackt und ordentlich aufgehängt würden.
Sie wurden von Lady Wellborough willkommen geheißen, die viel jünger war, als Monk erwartet hatte. Sie sah aus wie Mitte dreißig, war schlank und vielleicht ein bißchen größer als der Durchschnitt. Ihr von dichtem braunem Haar umrahmtes Gesicht war hübsch, aber nicht schön. Ihren Reiz machten ihre Intelligenz und Lebhaftigkeit aus. Kaum hatte sie die Neuankömmlinge entdeckt, da rauschte sie auch schon die prächtige Treppe mit ihrem schmiedeeisernen und an manchen Stellen mit Gold besetzten Geländer hinunter.
Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Mein lieber Stephan!« rief sie noch im Laufen. Und als sie stehenblieb, vollführten ihre Röcke einen wahren Tanz, bis die überdimensionalen Reifen schließlich zur Ruhe kamen. Der neuesten Mode entsprechend hatte ihr Kleid ein separates Mieder und bauschige Ärmel und war betont eng um die Taille, damit jeder sehen konnte, wie schlank sie war. »Wie schön, Sie wiederzusehen! Und das muß Ihr Freund Mr. Monk sein.« Sie wandte sich nun Monk zu und betrachtete neugierig sein hageres Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der Adlernase und dem breiten Mund.
Monk kannte diesen überraschten Blick schon; sie war nicht die erste Frau, die etwas anderes erwartet hatte, aber dennoch nicht enttäuscht war. Er verneigte sich.
»Es ist mir eine Ehre, Lady Wellborough. Ich fühle mich glücklich, daß ich dieses Wochenende Ihr Gast sein darf.«
Sie lächelte ihn liebenswürdig an. Und daran war nichts Einstudiertes. »Ich hoffe, Sie werden das auch noch bei Ihrer Abreise sagen können.« Sie wandte sich wieder an Stephan.
»Danke, daß Sie uns einen so interessanten Gast mitgebracht haben. Allsop wird Sie zu Ihren Zimmern führen, auch wenn Sie den Weg inzwischen sicherlich allein finden würden. Sie kennen ja unsere Gepflogenheiten, aber Ihnen, Mr. Monk, muß
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