Die russische Gräfin
überlegen. Und das ist das Magische an den Büchern: Man kann all den großen Menschen zuhören, die es auf dieser Welt gegeben hat, egal in welcher Zeit und egal in welcher Kultur. Man sieht das, worin sie sich von uns unterscheiden, Dinge, die man sich nie hätte vorstellen können.« Ihre Stimme wurde immer eindringlicher und enthusiastischer. Hester konnte sehen, daß sie sich vorbeugte und Robert sie lächelnd betrachtete.
»Lesen Sie mir Ihren Aristophanes vor«, sagte er sanft.
»Nehmen Sie mich für eine Weile nach Griechenland mit und bringen Sie mich zum Lachen.«
Sie lehnte sich zurück und schlug das Buch auf.
Hester beugte sich wieder über ihre Näharbeit, die sie nach Victorias Ankunft unterbrochen hatte. Wenig später hörte sie Robert zum erstenmal schallend lachen und gleich darauf noch einmal.
Da Robert nun wieder kräftiger wurde und nicht mehr rund um die Uhr gepflegt zu werden brauchte, konnte Hester in ihre Wohnung zurückkehren. Bei der ersten Gelegenheit schrieb sie Oliver Rathbone und bat ihn um einen Termin in seiner Kanzlei.
Er antwortete, daß er sich freuen würde, sie zu sehen, aber sie leider nur zum Lunch treffen könne, weil sein gegenwärtiger Fall einen enormen Zeitaufwand erfordere.
So fand sie sich gegen Mittag in seinen Räumen ein. Als sie zu ihm gebracht wurde, schritt er grübelnd in seinem Büro auf und ab. Sein Gesicht war gezeichnet von Erschöpfung und ungewohnter Besorgnis.
»Wie schön, Sie zu sehen«, sagte er lächelnd und schloß die Tür hinter ihr. »Sie sehen gut aus.«
Es war ein höfliches Kompliment ohne jede Bedeutung, das sie zudem nicht erwidern konnte, ohne zu lügen.
»Sie nicht«, sagte sie kopfschüttelnd.
Er blieb abrupt stehen. Mit einer solchen Antwort hatte er nicht gerechnet. Sie war selbst für Hesters Verhältnisse taktlos.
»Der Fall der Gräfin Rostova bereitet Ihnen Sorgen«, sagte sie mit einem matten Lächeln.
»Er ist sehr komplex«, entgegnete er vorsichtig. »Wie haben Sie davon erfahren?« Er gab die Antwort gleich selbst.
»Wahrscheinlich Monk!«
»Nein«, antwortete sie steif. Sie hatte Monk schon länger nicht mehr gesehen. Ihre Beziehung war immer schwierig, außer in kritischen Augenblicken, wenn die beiderseitige Antipathie einer auf instinktivem Vertrauen beruhenden Freundschaft wich, die tiefer war als der Verstand. »Callandra hat es mir gesagt.«
»Oh.« Er schien sich darüber zu freuen. »Möchten Sie mich zum Lunch begleiten? Es tut mir leid, daß ich so wenig Zeit habe, aber ich muß heute noch die Verteidigung in dem Fall vorbereiten.«
»Das kann ich gut verstehen. Und ich gehe gerne mit.«
»Schön.« Er nahm sie am Arm und führte sie ins Vorzimmer, vorbei an den mit hübschen, bis zum Hals zugeknöpften Anzügen bekleideten Kanzlisten, die sich mit Federkielen in Händen über die Hauptbücher beugten, und weiter auf die Straße. Unterwegs plauderten sie nur über Belangloses, bis sie in einer abgeschiedenen Nische des Gasthauses saßen und ihr Mittagessen bestellt hatten – in Teig gebackenes Wild mit Gemüse und Essigsoße.
»Zur Zeit pflege ich Robert Ollenheim«, eröffnete Hester nach dem ersten Bissen das Gespräch.
»Ach ja?« fragte Rathbone zerstreut, und mit einem Schlag begriff sie, daß der Name ihm kein Begriff war.
»Die Ollenheims waren gute Bekannte von Prinz Friedrich« , erklärte sie und nahm sich etwas mehr Soße. »Und natürlich auch von Gisela und Gräfin Rostova.«
»Oh, ich verstehe.« Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit, allerdings nur, bis er merkte, daß sie ihn durchschaut hatte. Er lief rot an. Um ihrem Blick auszuweichen, beugte er sich über seinen Teller. »Seien Sie mir nicht böse. Vielleicht bin ich etwas angespannt. Das Beweismaterial ist unter Umständen schwerer zu sammeln, als ich erwartet hatte.« Er sah wieder auf und bedachte sie mit einem bedauernden Lächeln.
Eine Frau ging so nahe an ihnen vorbei, daß ihre Röcke ihre Stühle streiften.
»Haben Sie schon etwas von Monk gehört?« erkundigte sich Hester.
Rathbone schüttelte den Kopf. »Er hat sich bislang noch nicht gemeldet.«
»Wo ist er jetzt? In Deutschland?«
»Nein, in Berkshire.«
»Warum in Berkshire? Ist Friedrich dort gestorben… oder getötet worden?«
Er sah kauend auf. Eine Antwort schien er nicht für nötig zu halten.
»Sehen Sie eigentlich einen politischen Hintergrund?« Sie bemühte sich um einen möglichst beiläufigen Ton, so als ob ihr die Frage eben erst
Weitere Kostenlose Bücher