Die russische Gräfin
eingefallen wäre. »Daß die deutsche Vereinigung und nicht ein Verbrechen aus persönlichen Motiven dahintersteckt? Wenn es denn ein Verbrechen war.«
»Durchaus möglich.« Er hatte sich schon wieder über seinen Teller gebeugt. »Wäre Friedrich in sein Land zurückgekehrt, um den Widerstand gegen die Vereinigung anzuführen, hätte er mit einiger Sicherheit seine Frau verlassen müssen, obwohl sie genau das befürchtete und er es nicht wahrhaben wollte.«
»Aber Gisela liebte ihn doch so sehr. Und außer Zorah hat das nie jemand bezweifelt.« Sie gab sich alle Mühe, nicht wie eine von einem begriffsstutzigen Kind entnervte Gouvernante zu klingen, hörte aber selbst den ungeduldigen und überbetont deutlichen Klang ihrer Stimme. »Auch wenn er zunächst ohne sie heimgekehrt wäre, hätte er doch nach gewonnenem Kampf um die Unabhängigkeit darauf bestehen können, daß man sie als Königin akzeptierte – und keiner hätte es ihm verwehren können. Halten Sie es denn nicht für ebenso möglich, daß jemand anders – vielleicht ein Anhänger der Vereinigung – ihn tötete?«
Rathbone überlegte. »Meinen Sie, jemand, der von einem der anderen deutschen Staaten bezahlt wurde?« fragte er.
»Warum nicht? Könnte Gräfin Rostova ihre Beschuldigung auf die Anregung Dritter hin erhoben haben, in dem Vertrauen darauf, daß ihre Auftraggeber rechtzeitig zum Prozeß Entlastungsmaterial nachliefern würden?«
Darüber dachte Rathbone eine Weile nach. »Das bezweifle ich«, brummte er schließlich und griff nach seinem Weinglas.
»Meiner Einschätzung nach gehört sie nicht zu den Menschen, die sich anderen unterordnen.«
»Was wissen Sie über die anderen Leute, die bei Friedrichs Tod anwesend waren?«
Er füllte wieder sein Glas. »Noch sehr wenig. Monk ist im Moment vor Ort und recherchiert. Die meisten von ihnen haben sich wieder bei den Wellboroughs versammelt. Ich nehme an, sie wollen ihre Verteidigung aufeinander abstimmen. Einer Dame aus hohen Kreisen dürfte wenig daran liegen, daß ihren Gästen Mord nachgesagt wird.« Ein sarkastisches Lächeln huschte über sein Gesicht, um sofort wieder zu verschwinden.
»Aber Gräfin Rostova kann man damit nicht verteidigen.«
Sie betrachtete sein Gesicht aufmerksam und versuchte, seine tieferen Gefühle zu erkennen. Sie sah die rasche Auffassungsgabe, die ihn schon immer ausgezeichnet hatte, seine Geistesschärfe und eine Portion Selbstbewußtsein, die sie zugleich anzog und ärgerte. Und seine Augen verrieten ihr noch etwas anderes: daß ihm nicht nur der Fall selbst Sorgen bereitete, sondern auch die Zweifel daran, ob es der Wahrheit letzter Schluß gewesen war, ihn anzunehmen.
»Vielleicht weiß sie, daß es Mord war, hat aber die falsche Person beschuldigt«, sinnierte sie laut und überraschte sich dabei, wie sie ihn wohlwollend musterte. »Dann wäre sie zwar immer noch der üblen Nachrede schuldig, aber nicht aus böser Absicht, sondern aus einer falschen Einschätzung der Situation heraus. Oder hat Gisela Friedrich zwar Gift gegeben, aber ohne zu wissen, worum es sich handelte? Dann wäre sie technisch gesehen schuldig, moralisch jedoch nicht.« Sie hatte die Portion vor sich ganz vergessen. »Falls das bewiesen werden kann, zieht die Gräfin ihre Behauptungen sicher mit einer Entschuldigung zurück. Und aus Erleichterung, daß die Wahrheit endlich auf dem Tisch ist, verzichtet Gisela vielleicht auf Sanktionen und läßt die Sache auf sich beruhen.«
Rathbone aß stumm weiter. Und auch Hester machte sich jetzt hungrig über ihre Portion her.
»Natürlich ist das denkbar«, murmelte Rathbone nach einer ganzen Weile. »Aber wenn Sie Gräfin Rostova kennen würden, hätten Sie keine Zweifel an ihrer Sicht der Dinge oder an ihrer Integrität.«
Das glaubte Hester nicht so ohne weiteres, aber sie stellte belustigt fest, daß Rathbone sich von der Gräfin zutiefst hatte beeindrucken lassen, und zwar so sehr, daß er sich gegen alle Gewohnheit nicht mehr bedeckt hielt, was wiederum ihre Neugierde auf diese Frau um so mehr steigerte. Gleichzeitig kränkte es sie allerdings auch ein wenig. Rathbone schien ihr zu schwärmerisch.
Er zeigte eine bei ihm noch nie gesehene menschliche Schwäche, ein Loch in seinem Panzer. Soviel Naivität machte sie wütend. Sollte er etwa fehlbarer sein, als sie es je für möglich gehalten hatte? Und dann wunderte sie sich über sich selbst. Da hatten sich in ihr doch glatt Beschützerinstinkte geregt und nahmen von Moment zu
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