Die russische Gräfin
der durch Arbeit auf allen möglichen Booten seinen Lebensunterhalt bestritt und außer der Bibel nichts las.
Monk riß sich los vom Gelächter, der Musik und der Farbenpracht. »Wie schrecklich, daß all das binnen weniger Stunden verlorengehen kann«, sagte er, den Blick auf den Ballsaal gerichtet.
Evelyn zog erstaunt die Brauen hoch. »Verlorengehen? Venedig mag verfallen, und neuerdings sind an jeder Straßenecke österreichische Soldaten… Wissen Sie, ein Freund von mir wollte einfach nur den Lido hinunterschlendern und wurde doch tatsächlich mit vorgehaltener Waffe vertrieben! Können Sie sich das vorstellen?« Ihre Stimme wurde schrill vor Empörung. »Aber Venedig versinkt nicht binnen weniger Stunden im Meer. Dafür gebe ich Ihnen mein Wort.« Sie kicherte. »Halten Sie uns etwa für ein zweites Atlantis? Ein Sodom und Gomorrha, das Gott in seinem Zorn zerstören wird?« Sie drehte sich so abrupt um, daß ihre Röcke Monks Beine streiften und die Spitzen sich in seinem Hosenbein verfingen. Er roch den Duft ihrer parfümierten Haare und spürte die Wärme ihres Körpers, obwohl ein guter halber Meter Luft zwischen ihnen war.
»Ich sehe kein Menetekel!« rief sie fröhlich und betrachtete das Farbenspiel auf dem Kanal. »Aber möchten Sie so freundlich sein und mir sagen, wie Sie darauf kommen?«
»Ich dachte an Prinzessin Gisela.« Er mußte sich zwingen, an vergangene Ereignisse zu denken. Die Gegenwart war zu aufregend, zu schwindelerregend für seine Sinne. Evelyn hatte ihn in ihren Bann gezogen. »Sie muß doch schon geglaubt haben, daß Friedrich auf dem Weg der Besserung war«, sagte er hastig. »Ging es nicht Ihnen allen so?«
»Und ob!« Sie sah ihn mit ihren großen braunen Augen an.
»Er schien ja schon über den Berg zu sein.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Ich nicht, aber Rolf. Er sagte, es gehe ihm viel besser. Er konnte noch nicht aufstehen, aber er saß aufrecht im Bett und redete und betonte, wie gut es ihm ginge.«
»Gut genug, um an seine Rückkehr zu denken?«
»Oh!« Sie zog die Silbe in die Länge, als hätte sie seine Gedanken durchschaut. »Sie glauben, Rolf sei gekommen, um ihn zur Rückkehr zu überreden, und Gisela hätte die zwei belauscht. Da dürften Sie sich gründlich getäuscht haben.« Sie lehnte sich gegen das Treppengeländer hinter ihr – eine aufreizende Pose, denn sie betonte ihre Rundungen. »Wer die zwei kannte, hätte nie geglaubt, daß er ohne sie gegangen wäre. Menschen, die einander so sehr lieben, trennen sich nicht. Er hätte ohne sie nicht überlebt und sie genausowenig ohne ihn.« Unten war das Gelächter erstorben. Ein wehmütiger Ausdruck trat in ihr Gesicht. Sie zeigte sich Monk halb von vorne, halb von der Seite. Er sah ihre leicht nach oben geschwungene, zarte Nase, die dunklen Wimpern und die glatte Wange. Ihr Blick war auf den Trubel unten gerichtet, wo alle wild durcheinanderredeten, während im Hintergrund Geigen und Holzblasinstrumente spielten.
»Mir ist gerade die Uraufführung einer von Verdis Opern hier im Fenice eingefallen«, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln. »Es ging darin um Genua und Politik. Ich fühle mich an das Bühnenbild erinnert. Und an viel Wasser. Das war vor zehn Jahren.« Sie zuckte die Schultern. »Inzwischen hat das Theater zugemacht. Sie werden es noch nicht bemerkt haben, Venedig ist aufs Festland gezogen. Und zu den offiziellen Empfängen der österreichischen Regierung geht niemand hin. Ich weiß nicht, ob sie wegbleiben, weil sie die Österreicher so sehr hassen, oder ob sie Angst vor Vergeltungsaktionen der Nationalisten haben.«
»Vergeltungsschläge der Nationalisten?« fragte Monk neugierig. Er betrachtete fasziniert das Spiel der Lichter auf ihrem Gesicht. »Sie meinen, es gibt hier eine nationalistische Bewegung, die so stark ist, daß sie Kollaborateure bestrafen kann?«
»O ja!« Sie schüttelte resigniert den Kopf. »Natürlich betrifft das nicht uns, weil wir ja Exilanten sind, aber für die Venezianer ist das furchtbar wichtig. Feldmarschall Radetzky, der Generalgouverneur hier, sagt, daß er trotzdem Maskenbälle und Festessen veranstaltet und notfalls seine Männer miteinander Walzer tanzen läßt, wenn nicht genug Damen kommen.« Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Und als der österreichische Kaiser mit seiner Familie hierherkam, war die Stadt wie leergefegt. Sie fuhren mit ihren Prachtgondeln den Canale Grande hinunter, und niemand stand auf den Baikonen oder hinter den
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