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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verstümmelt wurden und vielleicht noch Schlimmeres erlitten als Robert. Aber Sie sehen nur den ersten schrecklichen Schock und gehen dann weiter zum nächsten Patienten. Was Sie nicht mitbekommen, das sind die langen Jahre danach, die enttäuschten Hoffnungen, die Gefängnismauern, die sich um die Menschen schließen und die Lebensfreude und… die eigenen Leistungen zerstören.«
    »Ich habe nicht nur Soldaten gepflegt, Baron Ollenheim«, sagte Hester sanft. »Aber bitte lassen Sie Robert nie spüren, daß Sie so schwarz für ihn sehen, sonst rauben Sie ihm den letzten Rest an Mut. Wenn Sie weiter so fest an Ihre Befürchtungen glauben, bewahrheiten sie sich am Ende tatsächlich.«
    Er starrte sie an. In rascher Abfolge spiegelten sich Zweifel, Zorn, Verblüffung und schließlich Verstehen auf seinem Gesicht. Sein Blick fiel auf den Briefbogen vor Hester. »Wem schreiben Sie da? Meine Frau hat gesagt, Sie hätten sich bereit erklärt, ihr mit den vielen Briefen zu helfen, die wir jetzt abschicken müssen. Könnten Sie bei der Gelegenheit vielleicht auch Miss Stanhope danken und ihr mitteilen, daß sie nicht länger benötigt wird? Halten Sie eine Entschädigung für ihre Dienste für angemessen? Soviel ich weiß, lebt sie in äußerst bescheidenen Verhältnissen.«
    »Nein, ich glaube nicht, daß so etwas angemessen wäre!« sagte sie in scharfem Ton. »Außerdem hielte ich es für einen schweren Fehler, ihr mitzuteilen, daß sie nicht mehr benötigt wird. Jemand muß Robert dazu ermutigen, hinauszugehen und neue Lebensinhalte zu finden.«
    »Hinausgehen?« Zwei rote Flecken erschienen auf seinen bleichen Wange. »Ich kann mir kaum vorstellen, daß er unter die Leute gehen möchte, Miss Latterly. Diese Bemerkung zeugt von Gefühllosigkeit.«
    »Er ist gelähmt, Baron Ollenheim, aber nicht entstellt. Er braucht sich wegen nichts zu schämen…«
    »Natürlich nicht!« schrie Bernd außer sich vor Wut. Hatte sie ihn vielleicht an einem wunden Punkt getroffen und richtig erkannt, daß er sich schämte, daß ein Mitglied seiner Familie von nun an behindert, seiner Manneskraft beraubt und auf die Hilfe anderer angewiesen sein sollte?
    »Ich hielte es für klug, ihn zu ermutigen, auch weiterhin Miss Stanhope einzuladen«, sagte Hester mit fester Stimme. »Sie ist bereits mit der Situation vertraut, und es fällt ihm bestimmt leichter, sich ihr anzuvertrauen, als irgendwelchen Fremden am Anfang zumindest.«
    Darüber dachte er länger nach. Er sah entsetzlich abgespannt aus. »Ich will diesem Mädchen kein Unrecht tun«, murmelte er schließlich. »Sie ist genug gestraft durch ihr Äußeres und, wie mir meine Frau gesagt hat, die Umstände in ihrem Leben. Aber wir können ihr keine Dauerstellung anbieten. Robert wird einen ausgebildeten Pfleger brauchen und später, wenn er seine alten Freunde wieder empfängt, diejenigen unter ihnen, die bereit sind, sich auf die geänderten Umstände einzustellen«, er verzog das Gesicht, »spätestens dann würde sich Miss Stanhope ausgeschlossen fühlen. Wir dürfen weder ihre Großzügigkeit noch ihre Verletzlichkeit ausnützen.«
    Er hatte sie gewiß nicht verletzen wollen, doch Hester erkannte in seinen Worten ihre eigene Situation wieder: In einer Zeit der Schmerzen und der Verzweiflung hatte man sie eingestellt, sich auf sie gestützt und ihr vertraut, um sie dann, wenn die Krise vorbei war, mit einer Entschädigung und dürren Dankesworten zu entlassen. Weder sie noch Victoria war Teil dieses Lebens; sie standen auf einer niedrigeren gesellschaftlichen Stufe und durften nur in einem sehr beschränkten Sinne Freunde sein.
    Außer daß Victoria nichts gezahlt werden sollte, weil man ihre Lebensumstände überhaupt nicht verstand.
    »Vielleicht sollten wir die Entscheidung Robert überlassen«, sagte Hester unverblümter, als sie beabsichtigt hatte. Sie war wütend, weil man Victoria und auch sie so abspeisen wollte, und fühlte sich schrecklich allein.
    »Na gut«, stimmte Bernd widerwillig zu. Was sie empfand, bemerkte er allerdings nicht. Ja, ihm kam nicht einmal der Gedanke, daß sie auch Gefühle haben könnte. »Fürs erste können wir es wohl dabei belassen.«
    Bereits am nächsten Morgan kam Victoria wieder. Hester erblickte sie auf dem Treppenabsatz und winkte sie zu sich hinter eine in eine riesige chinesische Vase gepflanzte Palme. Sonnenlicht flutete durch die Fenster und warf helle Quadrate auf den gebohnerten Parkettboden.
    Victoria trug ein dunkelblaues Wollkleid mit

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