Die russische Gräfin
Rathbones langes Gesicht mit den fröhlichen Augen und dem scharf geschnittenen Mund vor sich. Sie hatte ihn noch nie voller Selbstzweifel gesehen. Mit Entschlossenheit, Geschick und unermüdlicher Energie hatte er anderen Niederlagen bereitet, aber wenn ihm eine drohte, dann war das etwas ganz anderes. Seine Tapferkeit stellte sie nicht in Frage, doch sie wußte, daß er unterhalb seiner zur Schau getragenen Gefaßtheit zutiefst verunsichert war. Er hatte Züge an sich entdeckt, die ihm nicht gefallen konnten: Verletzbarkeit und eine gewisse Selbstgefälligkeit.
»Er wird doch sicher hingehen, nicht wahr?« bohrte sie nach.
»Immerhin geht es ja nicht nur um das Leben und den Tod von Leuten, mit denen Sie verkehrten, sondern vielleicht sogar um die Ermordung eines Mannes, der Ihr König hätte werden können.«
Dagmar gab ihren Versuch auf, so zu tun, als würde sie nähen. Die Bluse fiel ihr aus der Hand. »Wenn mir vor drei Monaten jemand mit dieser Theorie gekommen wäre, hätte ich ihm gesagt, er solle keinen Unsinn reden. Sie ist ja völlig absurd!«
»Sie müssen Gisela sehr gut kennen«, half Hester nach. »Was für ein Mensch ist sie? Mögen Sie sie?«
Darüber dachte Dagmar einen Moment nach. »Ich glaube nicht, daß ich sie wirklich kenne«, meinte sie schließlich. »Sie gehört zu denjenigen Frauen, die sich wohl nie ergründen lassen.«
»Ich verstehe nicht…«
Dagmar legte die Stirn in Falten. »Sie hatte Bewunderer, Leute, die ihre Gesellschaft genossen, aber sie hatte wohl keine engen Freunde. Wenn Friedrich jemanden mochte, dann mochte sie ihn auch. Leute, die ihm unsympathisch waren, behandelte sie wie Luft.«
»Aber Friedrich hatte doch nichts gegen Sie!« Hester hoffte inbrünstig, daß sie sich nicht getäuscht hatte.
»O nein!« stimmte Dagmar zu. »Ich glaube, daß uns eine lose Freundschaft verband. Zumindest waren wir mehr als bloß Bekannte, bevor Gisela kam. Aber mit ihr war das anders. Sie konnte ihn sogar dann zum Lachen bringen, wenn er müde oder gelangweilt war. Ich schaffte das nie. Ich habe ihn bei Festessen erlebt, bei denen Politiker endlose Reden hielten und er mit glasigem Blick dasaß und so tat, als würde er zuhören.« Sie lächelte unwillkürlich. Für einen Moment verdrängte die Erinnerung die Gedanken an Robert. »Aber wenn Gisela ihm dann etwas ins Ohr flüsterte, leuchteten seine Augen auf einmal, und er nahm wieder Anteil. Es war, als könne sie ihn einfach durch einen Blick oder ein Wort mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem Lachen anstecken. Sie glaubte an ihn. Sie holte aus ihm all das heraus, was gut an ihm war. Sie liebte ihn wirklich.« Dagmars Blick verlor sich in der Ferne. Die Erinnerung und vielleicht auch eine Spur Eifersucht auf eine so perfekte Symbiose von Herz und Verstand ließen ihre Züge ganz weich erscheinen.
»Und er muß sie auch geliebt haben«, setzte Hester nach. Sie versuchte, sich diese Beziehung vorzustellen. Sie selbst schien sich ja gerade mit den Leuten, die ihr etwas bedeuteten, ständig am Rande eines Mißverständnisses, wenn nicht sogar eines Streits zu bewegen. Lag das an einem Charakterfehler von ihr? Oder suchte sie sich die falschen Freunde aus? So hatte beispielsweise Monk eine dunkle Seite an sich, von der sie sich regelmäßig ausgesperrt fühlte. Er wirkte dann geradezu unnahbar. Und doch gab es Momente, in denen sie genau wußte, daß er sie auf keinen Fall verletzen wollte, egal was ihn das kosten mochte.
Dagmars Stimme riß sie aus ihren Gedanken. »Absolut und vorbehaltlos«, antwortete sie wehmütig. »Er betete sie an. Man wußte immer, wo sie saß oder stand, denn selbst wenn er sich mit anderen unterhielt, wanderte sein Blick regelmäßig zu ihr hinüber. Und er war ja so stolz auf sie, auf ihren Charme, ihren Witz, ihre Anmut und Eleganz und ihren Geschmack für schöne Kleider. Er erwartete von allen, daß sie sich ebenso für sie begeisterten. Wenn man sie mochte, war er glücklich, wenn nicht, dann konnte er das nicht verstehen.«
»Gab es viele, die sie nicht mochten?« fragte Hester. »Warum konnte die Königin sie nicht ausstehen? Und Gräfin Rostova schien es in dieser Hinsicht ja auch so zu gehen.«
»Ich sehe beim besten Willen keinen Grund, außer daß die Königin ihn vielleicht mit Brigitte von Arlsbach verheiraten wollte. Gisela dagegen ermutigte ihn eher, alle Brücken hinter sich abzureißen.« Ein Lächeln huschte über Dagmars Gesicht.
»Er war es ja gewöhnt, alles zu tun, was man ihm
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