Die russische Gräfin
Schandtat bezichtigt, die er zwar nicht begangen hatte, aber er konnte seine Unschuld nicht beweisen – zumindest nicht restlos. Kalte Angst krampfte seinen Magen zusammen und ließ ihn nicht los. Ein Schrei stieg in ihm hoch, und er mußte alle Kraft zusammennehmen, um nicht vor Panik loszubrüllen.
Aber dann war ihm doch nichts geschehen. Dessen war er sich fast ganz sicher. Warum nicht? Wie war es verhindert worden? Hatte er sich retten können? Oder hatte ein anderer ihn befreit? Und um welchen Preis?
Sein Mentor hatte sein Leben im Gefängnis beendet. Man hatte ihn betrogen und mit falschen Beschuldigungen gebrochen. Monk hatte verzweifelt dagegen angekämpft – und verloren. Zuvor hatte er sich sporadisch nur an Fragmente erinnern können. Einmal hatte er das tränenüberströmte Gesicht der Frau seines Förderers vor Augen gehabt. Sie war verzweifelt gewesen, hatte aber keinen Laut herausgebracht.
Er hätte alles hergegeben, hätte er nur helfen können. Aber er hatte nichts gehabt! Kein Geld, keinen Einfluß, keine Fähigkeiten, die ihm von Nutzen hätten sein können.
Was danach geschehen war, wußte er nicht mehr. Alles, was er der Dunkelheit der Amnesie hatte entreißen können, war das Gefühl eines tragischen Verlusts und ohnmächtiger Wut. Er wußte, daß er aus diesem Grund zur Polizei gegangen war: Er wollte Unrecht wie dieses bekämpfen, die Betrüger und Mörder aufspüren und bestrafen und verhindern, daß anderen Unschuldigen ähnliches Unrecht zugefügt wurde.
Aber worin bestand die Schuld, an die er sich mit diesem klammen Gefühl erinnerte? Es mußte etwas ganz Bestimmtes sein und keine allgemeine Dankbarkeit für die Jahre, in denen ihm sein Gönner freundlich unter die Arme gegriffen hatte. Hatte er sie je abgegolten?
Er hatte nicht den blassesten Schimmer. Seine Erinnerung war in Finsternis getaucht, und er spürte nur einen Druck, ein alles verzehrendes Bedürfnis, die Wahrheit zu erfahren.
Der Empfang fand in einem riesigen Saal statt, den von der mit Malereien und Schnitzereien verzierten Decke herabhängende Lüster in ein glitzerndes Lichtermeer verwandelten. Es waren höchstens hundert Gäste geladen, aber die gewaltigen, pastellfarbenen und dezent mit Blumen gemusterten Röcke der Frauen schienen den ganzen Raum auszufüllen. Zwischen ihnen wirkten die Männer in ihren schwarzen Anzügen wie kahle Bäume in einer Blumenwiese. Diamanten brachen das Licht vielfach in alle Richtungen, wenn sich Köpfe und Handgelenke bewegten. Hin und wieder drang über das Plaudern und Lachen ein Klacken an Monks Ohr, wenn der eine oder andere feine Herr sich verbeugte und die Hacken zusammenschlug.
Die meisten Gespräche wurden natürlich auf deutsch geführt, aber überall dort, wo Eugen Monk vorstellte, wechselte man aus Rücksicht in die englische Sprache.
Die Leute unterhielten sich über alle möglichen Belanglosigkeiten: das Wetter, Theater, internationale Nachrichten und Klatschgeschichten, die neuesten Kompositionen und philosophischen Erörterungen. Den drohenden Skandal in London erwähnte niemand. Genausowenig wurde Friedrichs Tod angesprochen. Statt sechs Monate hätte er genausogut sechs oder zwanzig Jahre zurückliegen können, denn er hatte ja auf den Thron verzichtet und sein Land für immer verlassen. Vielleicht war er schon damals für seine Landsleute gestorben. Wenn jemand an Giselas oder Zorahs Schicksal Anteil nahm, so erwähnte er das mit keinem Wort.
Hin und wieder wurde die Konversation trotzdem ernst, aber dann ging es ausschließlich um die Aufstände von 1848 und die verstärkte Unterdrückung danach, vor allem in Preußen. Im Laufe des Abends beherrschten aber zunehmend die Themen Vereinigung oder Unabhängigkeit, soziale und wirtschaftliche Reform und der Ruf nach mehr Freiheiten die Gespräche. Vor allem aber war die Angst vor einem möglichen Krieg zu spüren. Gisela, Friedrich und Zorah wurden dagegen auch weiterhin nicht angesprochen. Nur über Zorah bekam Monk einmal zu hören, sie sei exzentrisch und eine glühende Patriotin. Wenn jemand ihre Beschuldigung erwähnte, so kam das Monk nicht zu Ohren.
Gegen Ende des Abends kam Eugen auf Monk zu und stellte ihn Prinz Waldo vor. Monk hatte mit einer schwächeren Ausgabe des älteren Bruders gerechnet, einer Verlegenheitslösung für den eigentlichen Thronfolger. Was er jedoch sah, war ein kräftig gebauter Mann von durchschnittlicher Größe mit einem fast schönen, wenn auch etwas zu breiten Gesicht. Sein
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