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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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was sie ihr Leben lang getan hatte, wenn irgendwo Not am Mann war: Sie half. Binnen kürzester Zeit gründete sie einen neuen Sanitätsverein, der zur Stelle war, wenn es darum ging, verwundete Soldaten nach Hause zu holen und zu betreuen. Oftmals stand die Königin höchstpersönlich mit am Bahnhof, um Heimkehrer zu begrüßen. Zu Evelyns Entsetzen bestand sie außerdem darauf, eigenhändig eitrige Wunden auszuwaschen, Verbände anzulegen und Sterbenden die Hand zu halten. Dabei hätte es eine großzügige Geldspende doch auch getan! Hatte Evelyn anfangs noch geglaubt, dass aufgrund dieses neuen Engagements alte vernachlässigt werden würden, so hatte sie sich auch darin getäuscht: Mit fast übermenschlicher Kraft schulterte Olly die neue Aufgabe zusätzlich zu ihren bisherigen.
    Bei ihren ersten beiden Besuchen im Lazarett wurde sie von Wera begleitet, doch der Anblick der an Körper und Seele erkrankten Soldaten begleitete das junge Mädchen bis in den Schlaf. Alpträumeund eine innere Unruhe, die man längst besiegt zu haben geglaubt hatte, waren die Folge. Olly beschloss, ihre Arbeit bei den Kriegsversehrten fortan allein auszuüben. Und Wera konnte ihrem glorifizierten Bild vom Krieg weiter nachhängen, ohne dass es durch Blut und schwärende Wunden getrübt wurde.
    Als die alliierten Truppen als Sieger aus dem Krieg hervorgingen und sich der preußische König Wilhelm am 18 . Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles zum deutschen Kaiser proklamieren ließ, ertönte abermals lautes Triumphgeschrei. Mit dieser großen, dieser einzigartigen Geste hatte man den Franzosen noch die letzte Abreibung verpasst!
    Olly und Karls Jubel war verhaltener gewesen. Denn es war tatsächlich eingetreten, was Olly vorausgesehen hatte: Bismarck hatte nicht nur einen deutschen Kaiser erschaffen, sondern ein Deutsches Reich gleich mit dazu. Am 25 . November 1870 unterschrieb Karl erneut als letzter Monarch seinen Beitritt zu diesem »Zwangsbündnis«, wie er es nannte. Damit einher ging der Verzicht auf einen Großteil der württembergischen Souveränitätsrechte. Zweiunddreißig Reichsgesetze traten mit Jahresbeginn 1871 in Kraft, Württemberg gehörte fortan zum Deutschen Reich.
    Gedankenverloren strich Evelyn Weras Gedicht glatt, das ein paar Suppenspritzer abbekommen hatte. Ein Gutes hatte der Krieg auf alle Fälle gehabt: Die äußere Bedrohung hatte Karl und Olly einander wieder einmal nähergebracht. Ihr gleichermaßen empfundener Groll wegen der mangelnden Unterstützung durch den Zaren, ihr beider Unverständnis angesichts Weras Kriegsschwärmerei, ihr ebenfalls gemeinsames Bemühen in der Zurückholung der Kriegsversehrten, Ollys Engagement im Sanitätsverein – das Königspaar hatte so viel zu tun gehabt, dass für Streit und Hader kaum Zeit blieb. Evelyn dankte dem lieben Gott, dass auch von »Stuttgarter Verhältnissen« und Karls seltsamen Vorlieben schon lange keine Rede mehr gewesen war. Die Beziehung zu seinem Adjutanten war zwar nach wie vor ungewöhnlich eng und hatte ihrer Ansicht nach seltsame Züge. Doch außer ihr schien sich niemand daran zu stören.Oder machte sich die Königin dieselben Gedanken? War es darum bei dem nachmittäglichen Streit gegangen? Als Evelyn just zu dieser Zeit an Karls Amtszimmer vorbeigelaufen war, hatten die Gesprächsfetzen, die durch die geschlossene Tür drangen, Derartiges vermuten lassen.
    Evelyn warf ihrer Königin einen schrägen Seitenblick zu. Nach wie vor war das, was hinter Ollys Stirn vorging, die meiste Zeit unergründlich – und glücklich sah die Zarentochter nicht aus.
    Ganz gleich, wie es um die Ehe des Königspaares bestellt war – nun, nach Kriegsende, standen neue große Schwierigkeiten an: Württemberg musste seine Rolle innerhalb des Kaiserreiches finden, Karl würde dafür kämpfen müssen, nicht den letzten Rest Selbständigkeit zu verlieren. Und was die Familie anging: Hier würde es vorrangig darum gehen, Wera in den nächsten Jahren gut zu verheiraten. Evelyn konnte sich jedoch nicht vorstellen, wie dies funktionieren sollte: Wera war zwar eine aufgeweckte, gebildete junge Frau. Sie war auf ihre eigene Art liebenswert und verfügte über einen gewissen spitzbübischen Charme. Allerdings war sie von Olly und Karl auch schrecklich verwöhnt worden. Ging etwas nicht nach Weras Kopf, konnte sie noch heute wütend durch den Raum tanzen.
    So viel war zu tun … Würde angesichts dieser großen Aufgaben Ruhe und Frieden einkehren? Oder

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