Die russische Herzogin
drückten am rechten Fuß. Im Geiste legte Wera eine Liste mit Aufgaben an, die sie in den nächsten Tagen bewältigen wollte.
»… kennenSie schon das neue Buch des portugiesischen Rittmeisters Nunós de Váldemossa über die klassische Reitkunst?«
Irritiert schaute Wera Lutz an. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie seine Anfangsworte nicht mitbekommen hatte.
»Ein neues Buch?«, wiederholte sie.
Lutz nickte heftig. »Meiner Ansicht nach hat es selbst das Zeug zum Klassiker, denn es vereint …«
Lächelnd hörte Wera ihrem alten Freund bei dessen Schwärmereien über weitere Bücher zu, von denen sie noch nie gehört hatte: das Wanderbuch von Franz Freiherr von Dingelstedt. Die neueste Ausgabe von Meyers Konversationslexikon, die seiner Ansicht nach qualitativ schlechter war als die vorherigen. Er sprach auch über den Roman einer Französin, den er langweilig fand, den die Damenwelt jedoch zu lieben schien.
»Täusche ich mich oder ist deine Liebe zu Büchern im Laufe der Jahre eher noch größer geworden?«, fragte sie, als er einmal kurz Luft holte.
»Und wie sieht es bei dir aus?«, antwortete er mit einer Gegenfrage.
Erleichtert registrierte Wera, dass Lutz zum Du übergegangen war.
»Ehrlich gesagt habe ich schon lange kein Buch mehr in der Hand gehabt.« Sie zuckte mit den Schultern. Da war ihre innere Unruhe gewesen. Die Unlust, sich auf etwas einzulassen, sich zu konzentrieren. Ob sie inzwischen den Kopf dafür wieder frei hatte? Auf der Terrasse der Villa oder in einem der vielen Pavillons würde sie sicher gemütlich schmökern können.
Sie reckte ihr Kinn nach vorn und sagte: »Du schaffst es immer wieder, mir das Lesen schmackhaft zu machen. Wie damals, erinnerst du dich? Deiner Schwärmerei ist es zu verdanken, dass ich mein erstes Buch gelesen habe. Ein Band von Gustav Schwab, in dem er eine Reise über die Schwäbische Alb schilderte, ich erinnere mich genau. Margitta war zwar auch ein Bücherwurm, doch von ihrem Eifer ließ ich mich nicht anstecken«, fügte sie lachend hinzu.
»Wiegeht es eigentlich deiner alten Freundin Margitta?«
Wera zuckte erneut mit der Schulter, diesmal sehr schuldbewusst.
»Ich weiß es nicht.«
Am nächsten Morgen war Wera schon kurz nach Sonnenaufgang auf den Beinen. Leise, um die anderen Bewohner der Villa nicht zu stören, machte sie sich ausgehfertig. Punkt neun Uhr saß sie am Frühstückstisch und studierte ihre Aufgabenliste: neue Kleider, neue Stiefel, und wie hieß noch mal das Buch von der französischen Autorin? Doch bevor sie sich an die Bewältigung ihrer Liste machte, hatte sie etwas anderes vor. Etwas, wofür sie keine schriftliche Erinnerung brauchte.
Es war nicht einfach, die Adresse zu finden. Weras Kutscher musste im engen, winkligen Straßengeflecht des Stuttgarter Westens mehrmals nach dem Weg fragen. Doch schließlich stand Wera vor einem schmalen Haus. Über dessen großem Schaufenster im Erdgeschoss prangte ein Schild mit der Aufschrift »Chemische Reinigung – königlicher Hoflieferant«. Das Haus war eingebettet in eine lange Reihe anderer schmaler mehrstöckiger Häuser, die allesamt Handwerksbetriebe beherbergten – Schneider, Schlosser, Uhrmacher und mehr. Trotzdem war die Straße eng und an etlichen Stellen unbefestigt, Müll türmte sich hier und da auf, so dass ein Durchkommen mit der Pferdekutsche unmöglich war. Dafür waren unzählige hoch beladene Handkarren unterwegs, die von Männern gezogen wurden. Wie Tiere hatten sie sich Lederriemen um die Leiber geschlungen und stemmten sich mit ihrer Körperkraft nach vorn, um die schwerbeladenen Fahrzeuge zu bewegen. Wera schaute dem Treiben beklommen zu.
Hier arbeitete und lebte Margitta. Anscheinend bewohnte ihre Freundin eine Wohnung im ersten Stockwerk über der Reinigung – zumindest war dies die Auskunft gewesen, die Wera von der Vorsteherin der königlichen Wäschekammer bekommen hatte.
Während sie unschlüssig vor der Tür stand, fuhr ein Karren vor, hochbeladen mit dunkelblauen Vorhängen, die Wera als die aus Ollys Blauem Salon wiedererkannte.
Zweimal jährlich wurden sie von Lakaien abgenommen, dann wirkten die hohen Fenster für ein paar Tage kahl und nackt. Wera hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wer für die Reinigung der Vorhänge zuständig war. Nun wusste sie es.
Zwei junge Burschen hievten die riesigen schweren Stoffballen auf ihre Schultern, dann verschwanden sie damit im Haus. Sogleich stach Wera ein scharfer Geruch in die Nase, der
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