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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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sie sprach, rutschte Wera von ihrem Sitz auf den Boden, wo sie sich zusammenkauerte.
    Perplex schaute Olly das verstörte Mädchen an, das die Knie an die Brust gezogen und den Kopf daraufgepresst hatte. Mit beiden Händen hielt sie sich die Ohren zu. Ollys Erklärungen, dass die einstige Schlosskirche nicht mehr als solche genutzt wurde und dass eine Apotheke und eine Bibliothek darin untergebracht waren, hörte sie nicht.
    Unwillkürlich fühlte Olly auch in sich selbst Panik aufkommen. Während sie sich sehnlichst wünschte, dass Karl oder Eve hier wären, fuhr der Kutscher an den Straßenrand und hielt an. Er drehte sich um und sagte durch das Gitternetz, das das Wageninnere vom Kutschbock trennte: »Als ich Baronin von Massenbach und Ihr Patenkind letzte Woche in die königliche Schneiderwerkstatt kutschiert habe, hat Großfürstin Wera den gleichen Aufstand gemacht, als wir an der Stiftskirche vorbeigekommen sind. In den Kirchen würden sich Attentäter verstecken, hat sie gesagt.«
    »Aber warum hat mir das niemand berichtet?« Entsetzt schaute Olly von ihrem Kutscher zu Wera. Angst vor bösen Männern? Vor Attentätern, die sich in Kirchen versteckten? Was hatte das zu bedeuten?
    Der Mann zuckte mit den Schultern. »Wir dachten, die Großfürstin macht einen ihrer Scherze. Also haben wir einfach einen anderen Weg genommen.«
    »Sind wir schon vorbei? Ist die Gefahr vorüber?«, rief das zusammengekauerte Bündel zu Ollys Füßen.
    Während sie noch nach einer Erklärung suchte, kniete sich Olly ohne Rücksicht auf ihre Garderobe auf den Boden der Kutsche und wiegte Wera wie ein kleines Kind im Arm. Mitleid, vermischt mit einer Woge schlechten Gewissens, ließ ihr Herz fast überlaufen. Da verschwendete sie Gedanken darauf, dass Weras Haare nicht gewaschen waren. Aber die Ängste, die Wera in sich trug, die hatte sie nicht einmal geahnt!
    … Angst vor Kirchen … vor Männern mit Gewehren … Attentätern … Attentätern? Dr. Haurowitz hatte bei Weras Ankunft erzählt, sie habe zu Hause mehrmals ein Spiel namens »Attentat« gespielt.
    Nur mühsam gelang es Olly, die Gedankenfetzen in ihrem Kopf zusammenzusetzen. Was, wenn es sich bei Weras auffälligem Verhalten nicht um ein Spiel gehandelt hatte? Womöglich ging es um etwas ganz anderes. Und sie alle zusammen waren nicht in der Lage, es richtig zu deuten …
    Plötzlich erschien Olly ein Bild lebendig vor Augen: In der Zeit, als ihr Bruder Konstantin samt Familie als russischer Statthalter in Warschau stationiert war – hatte es damals nicht geheißen, die Aufständischen in Warschau hätten sich in den städtischen Kirchen zusammengerottet? Olly konnte sich noch genau an die schrecklichen Wochen erinnern, in denen Tag für Tag Depeschen zwischen Russland, Warschau und Stuttgart hin und her geschickt worden waren. Jedes bisschen Information über den Verlauf der Unruhen hatte sie gierig in sich aufgesaugt. In Todesängsten hatte sie täglich zum Herrgott gebetet, dass ihrem Bruder und seiner Familie nichts geschehen möge.
    Weras Verhalten war kein Spiel, sondern eine Art furchtbare Nachwehe der Warschauer Schrecknisse! Das Attentat in Polen, bei dem Kosty verletzt worden war – seine Kinder hatten alles mitbekommen. So etwas musste bei einem sensiblen Mädchen bleibende Schäden hinterlassen.
    Das arme Kind. Alleingelassen mit seiner Angst. Ihr hilflos ausgeliefert.
    Während sie Wera stumm im Arm wiegte, rasten ihre Gedanken weiter. War Angst die »Krankheit«, unter der Wera litt? Plötzlich fügten sich weitere Mosaiksteinchen zusammen: Vom ersten Tag an hatte das Kind wie am Spieß geschrien, wenn sie oder Eve abends die Kerze auf seinem Nachttisch löschten. Sie brennen zu lassen sei viel zu gefährlich, hatten sie gesagt. Wera könne beruhigt schlafen, hier im Kronprinzenpalais gebe es keine Schlossgespenster, fügte Evelyn noch scherzhaft hinzu.
    Schlossgespenster,ha! Wahrscheinlich vermutete Wera hinter jeder Tür, in jeder dunklen Ecke die »bösen Männer«, die es damals auf Kosty abgesehen hatten.
    Und Weras Unwille, das Palais zu verlassen – hatte das auch mit ihrer Angst vor den »bösen Männern« zu tun? Fühlte sie sich in Stuttgart so wenig geborgen?
    Warum hatte niemand von ihnen Rückschlüsse gezogen zwischen dem Attentat, das Wera im vergangenen Sommer erleben musste, und ihrem Verhalten? Wie blind waren Karl, Evelyn und sie gewesen …
    Olly holte tief Luft. Nun war nicht der Zeitpunkt, sich mit Vorwürfen zu quälen.

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