Die russische Herzogin
Vielmehr war es höchste Zeit, sich um Weras »Krankheit« zu kümmern!
»Komm, ich zeig dir was.«
6. KAPITEL
I ch geh da nicht rein!« Mit verschränkten Armen stand Wera vor der Kirche.
»O doch. Du bist doch kein Feigling, oder?« Herausfordernd schaute Olly ihr Patenkind an.
Stummes Kopfschütteln.
»Dann komm! Und vertrau mir.« Ohne sich auf weitere Auseinandersetzungen einzulassen, zog Olly das widerstrebende Mädchen in Richtung der Kirchentür. Kurz davor stemmte Wera erneut ihre Beine in den Boden.
»Aber du musst zuerst nachschauen, ob … ob alles in Ordnung ist.«
Olly drückte beruhigend Weras Arm. Sie öffnete die Tür und wurde von hellem Licht überrascht. Das Klopfen von Hämmern auf Stein ertönte, dazu laute Männerstimmen.
»Was ist denn hier los …?«
»Ich hab’s dir doch gesagt, da drin sind böse Männer«, kreischte Wera. »Schnell weg!«
Mit angehobenem Rock rannte Olly hinter ihrer Nichte her. Ausgerechnet in diesem Moment fuhr der Wagen von Hildegard von Varnbüler vorbei. Nicht auch noch das, dachte Olly verzweifelt. Die attraktive Freifrau, deren Vater als Verkehrsminister im Gespräch war, ging in allen Salons von Stuttgart ein und aus. Außerdem wurde ihr derzeit von Carl von Spitzemberg, dem württembergischenGesandten in St. Petersburg, in vielen Depeschen der Hof gemacht. Nun würde Weras und ihr Auftritt in kürzester Zeit nicht nur die Runde durch die Stuttgarter Salons machen, sondern durch die von St. Petersburg gleich noch dazu.
»Wera, bleib endlich stehen!«, rief Olly, als sie ihre Nichte in Richtung Schillerplatz verschwinden sah. Was mache ich hier eigentlich? Sie hatte doch nur ihr Kinderheim besuchen wollen. Ganz in Ruhe. Ein bisschen Lob und Tadel verteilen, ein wenig mit den Kindern spielen. Ein gewöhnlicher Ausflug. Stattdessen war wieder einmal alles in ein bühnenreifes Drama ausgeartet.
In der Kirche roch es nach altem Stein und den brennenden Öllaternen, die dutzendfach entlang der Seitenwände aufgestellt worden waren. Auch ein paar Tische, übersät mit Zeichnungen und Papieren aller Art, standen herum.
Vom Türrahmen aus betrachtete Olly irritiert den Tross von Männern, der mit Laternen und riesigen Plänen ausgestattet im vorderen Teil des ehemaligen Kirchenschiffs stand und diskutierte.
»Ich habe keine Ahnung, was diese Herren hier vorhaben, aber es sind keine Attentäter. Vielmehr steht da vorn der Stuttgarter Oberbaurat Tritschler. Seltsam ist das schon …« Sie brach ab, als sie außer dem Oberbaurat auch Friedrich Hackländer auf sich zukommen sah. Was machte der Leiter der Bau- und Gartendirektion hier?
»Verehrte Kronprinzessin, wie schön, Sie zu sehen! Hat der König Sie also doch noch in seine Pläne eingeweiht, die Kirche in ihrer alten Pracht wiederherstellen zu lassen. Alles andere hätte mich auch gewundert, wo Ihr Interesse an der Architektur doch bekannt ist. Und Ihre Expertise!« Alexander von Tritschler machte eine tiefe Verbeugung.
Olly runzelte die Stirn. Das durfte doch nicht wahr sein! Wilhelm hatte vor, die alte Kirche zu renovieren – wozu? Der evangelischen Gemeinde Stuttgarts standen doch genügend Gotteshäuser zur Verfügung. Dagegen schmetterte er ihren Wunsch nach dem Bau einer russisch-orthodoxen Kirche seit Jahren mit der üblichen Begründungab, das Geld reiche nicht aus. Für die Renovierung einer uralten evangelischen Kirche reichte es offenbar sehr wohl. Oder steckte hinter all dem Pauline, die große Kirchgängerin? Und warum wussten Karl und sie nichts von dem Ganzen?
Olly spürte, wie das leise Pochen in ihrem Hinterkopf, das während der Verfolgungsjagd begonnen hatte, heftiger wurde.
»Die kostbaren Schriften, die hier zwischengelagert sind, werden natürlich vor Baubeginn an sichere Orte gebracht, so dass ihnen nichts geschieht«, sagte Friedrich Hackländer. »Vielleicht darf ich Ihnen und Ihrer Nichte die genauen Schritte erörtern, mit denen unser geliebter König mich betraut hat?«
Wie sehr er »unser geliebter König« betonte! Täuschte sie sich oder hatte Hackländers Lächeln etwas Süffisantes?
»Ihre Erklärungen interessieren mich nicht. Was ich jedoch sehr interessant finde, ist die Tatsache, dass Sie bei unserem letzten Treffen, als es um ein neues Kinderheim ging, Ihre leeren Kassen beklagten. Ganz so leer können sie wohl nicht sein!«, sagte sie barsch und zeigte auf die aufwendigen Renovierungen. Dann wandte sie sich wieder an Oberbaurat Tritschler. »Mein Patenkind
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