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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Sie drückte Olly die Münzen und ihre zwei Käsebrote in dieHand. Olly schaute sie gerührt an. »Was bist du nur für ein mitfühlendes Kind.«
    Eine Zeitlang herrschte einträchtiges Schweigen. Die Kutsche fuhr nun bergauf, das Schnaufen der Pferde wurde lauter, ihr Atem zog in weißen Schwaden an den Fenstern des Wagens vorbei.
    »Eins verstehe ich immer noch nicht«, sagte Wera, während Olly in irgendwelchen Unterlagen blätterte. »Diese armen Leute, von denen du vorhin gesprochen hast – woher kennst du die überhaupt?« Sie selbst kannte außer Margitta keine einzige arme Menschenseele. Wenn man Olly zuhörte, konnte man das Gefühl bekommen, die Welt würde wie ein voller Teller Suppe überschwappen vor lauter Bedürftigen.
    Die Kinder lagen still in ihren kleinen leinenweißen Bettchen. Ihre Körper waren straff eingebunden, so dass sie sich nicht drehen konnten. Nur die Köpfe schauten aus all dem Weiß hervor, sie wirkten übergroß. Manche hatten den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet.
    »Wie still es hier ist«, murmelte Wera, und ein leises Gefühl von Beklemmung beschlich sie. Kein Weinen, keine Spieluhr, kein Kinderlied, nicht mal Streitereien waren in dem großen Haus zu hören.
    Die Mutter Oberin – so wurde die Dame von Olly genannt – nickte stolz. »Schon die Kleinsten wissen, dass sie nicht weinen dürfen. Fängt einer damit an, plärrt das ganze Haus. Da ist es besser, solche Regungen gleich im Keim zu ersticken.« Sie nickte einer der jüngeren Schwestern zu, die sogleich auf eines der Bettchen zuging, um ein Kind herauszuheben. Mit einem Knicks hielt sie den Säugling Olly entgegen.
    »Möchten Sie das Kleine einmal halten, verehrte Kronprinzessin?«, fragte die Mutter Oberin in aufmunterndem Ton.
    Lächelnd nahm Olly den Säugling und wiegte ihn im Arm. »Sie haben so liebe Kinder hier«, sagte sie mit einem Seufzen.
    Weras Beklemmung wuchs. Liebe Kinder – ihr kamen die Kleinen wie dressierte Äffchen vor! Oder wie Larven. Sie schüttelte sichunwillkürlich. Als die Mutter Oberin sie ins nächste Zimmer führte, war sie froh.
    Bei dem grau angestrichenen schmalen Raum handelte es sich um den Speisesaal. Kinder jeglichen Alters saßen dichtgedrängt an langen Tischreihen, ein jedes hatte eine kleine Schüssel und einen Löffel vor sich. Auch hier sprach niemand, und niemand lachte. Manch ein Kind schaute angstvoll oder vorwitzig zur Tür, andere wiederum hielten ihren Blick streng auf ihre Schüsseln gerichtet. Ein paar der Kleinen starrten mit leerem Blick und einem eintönigen Kopfnicken vor sich hin. Waren das etwa schwachsinnige Kinder? Neugierig reckte Wera ein wenig den Hals. Wie gleich sie alle aussahen! Alle waren in blütenweiße Kittel gekleidet. Am Kopfende einer jeden Tischreihe stand eine Frau in weißer Tracht und wachte mit strengem Blick über ihre Schützlinge. Der Geruch von Gemüsesuppe hing schwer in der Luft.
    »Warum essen sie nicht?«, flüsterte Wera ihrer Tante zu. Dabei wusste sie die Antwort längst: In dieser unfrohen Stimmung wäre auch ihr der Appetit vergangen!
    »Sie haben auf uns gewartet. Die Mutter Oberin will doch zeigen, wie wohlgesittet es in ihrem Haus zugeht, nicht wahr?« Olly lächelte erst Wera, dann der Heimleiterin freundlich zu. »Nun geben Sie ihnen schon das Zeichen, wegen uns braucht niemand seine Suppe kalt zu essen.«
    Im nächsten Moment ertönte dutzendfaches Löffelschlagen – gierig schlangen die Kinder ihr Essen hinunter. Olly, die noch immer den Säugling auf dem Arm trug, sagte zufrieden: »Die Kinder scheinen einen guten Appetit zu haben. Auch sind sie trotz der räumlichen Enge, die leider noch immer hier herrscht, sauber und gut genährt. Ich bin sehr angetan von Ihrer Arbeit, liebe Mutter Oberin.«
    Die Frau deutete eine kleine Verbeugung an. »Bei uns herrscht nicht nur Zucht und Ordnung, sondern auch Reinlichkeit. Wenn man bedenkt, woher die armen Würmer teilweise stammen, ist dies von größter Wichtigkeit für ihr weiteres Gedeihen.«
    Olly nickte. »Wie viele … Todesfälle hatten wir letzten Monat?«
    »Zwei«, sagte die Mutter Oberin knapp. Erst auf Ollys fragendenBlick hin führte sie ihre Bemerkung weiter aus. »Ein kleiner Bub mit drei Jahren – als er zu uns kam, war es leider schon zu spät. Die Würmer hatten ihn innerlich aufgefressen«, sagte sie und verzog missbilligend das Gesicht. »Und ein Mädchen, kein halbes Jahr alt. Sie kam mit unzähligen blauen Flecken. Wir cremten sie ein, flößten

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