Die russische Herzogin
der Luft gegriffen …
Unglaublich, in welch kurzer Zeit dies der Russin gelungen war! Urplötzlich verspürte Evelyn einen Anflug von Eifersucht, doch genauso rasch kämpfte sie ihn nieder. Es gab Wichtigeres als Liebesgeschichten.
»Ihr kommt ja bald wieder«, sagte Wera, als wollte sie Olly über die anstehende Trennung hinwegtrösten. »Ich bin jedenfalls wirklich froh, dass ich nicht mitmuss«, verkündete sie fröhlich.
»Du bist … was?« Ollys Augen weiteten sich verwundert.
Wera nickte heftig. »Ein Mensch muss … Prioritäten setzen können,sagt Unteroffizier von Basten. Jemand muss schließlich bei Großvater Wilhelm bleiben, wenn ihr alle fort seid. Ich verspreche dir hoch und heilig, ich werde deinen Vater, so oft es geht, besuchen.« Sie gab Karl die Hand wie bei einem Treueschwur.
»Aber hast du in den letzten Wochen nicht ständig wiederholt, dass du deine Eltern treffen willst?«, hakte Olly überrascht nach.
Wera winkte ab. »Wahrscheinlich hätten die gar keine Zeit für mich. Außerdem wusste ich vor ein paar Wochen noch nicht, wie schön es im Juni in den Stuttgarter Weinbergen ist. Dieser Duft – wie Honig und Nektar und Süßholz. Und dazwischen flattern die jungen Spatzen so lustig durch die Luft. Lutz … von Basten sagt, der Juni sei nach dem September für Wanderleute der schönste Monat. Oh, da ist er ja endlich! Und Margitta ist auch dabei, hurra!« Schon schnappte Wera ihren Rucksack, der fertig gepackt an der kleinen Mauer lehnte, während der junge Unteroffizier in weit ausgreifenden Schritten den Berg heraufkam.
Auf Karls Zeichen hin begannen Lakaien, die Kutschverschläge zu öffnen. »Prioritäten setzen«, murmelte Karl kopfschüttelnd vor sich hin, dann nahm er seinen persönlichen Adjutanten zum wiederholten Male in den Arm.
Evelyn hüstelte – mussten die beiden Herren wirklich so innig Abschied nehmen? Schon verdüsterte sich Ollys Miene erneut.
Im nächsten Moment drückte Wera ihrer Tante einen impulsiven Kuss auf die Wange.
»Nun fahrt schon, dann können wir auch endlich losgehen. Unteroffizier von Basten will Margitta und mir heute nämlich ein paar Soldatenlieder beibringen!«
*
Das sommerliche Zusammentreffen der vielen gekrönten Häupter im Sommer 1864 etablierte sich unter den Bürgern von Bad Kissingen schnell als »Kaiserkur«. Stolz brachten die Zeitungen tagtäglich auf der ersten Seite eine Auflistung aller neu angereisten Gäste, die von allererstem Rang waren: Im Kurgarten, der Wandelhalle undrund um den Regentenbau promenierte das württembergische Kronprinzenpaar zusammen mit dem jungen Bayernkönig Ludwig II. und Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Der russische Zar Alexander II., der besonders gern entlang der Fränkischen Saale spazierte, gehörte zu den herausragenden Kurgästen, genau wie seine Frau Maria Alexandrowa und die Zarenmutter. Dass Sascha seine Geliebte Katharina Dolguruki ebenfalls in Bad Kissingen einquartiert hatte, sorgte für einigen Klatsch und weckte den Unmut seiner Familie. Vor allem Olly hätte ihren Bruder dafür ohrfeigen können. Umso mehr freute man sich hingegen über den Zarewitsch Nikolaj, der gesund genug war, seine Schwestern und Eltern in den Kurort zu begleiten.
Kein Krieg war in Sicht, das politische Klima war so heiter wie das Wetter. Einzig der starke Wind war ein Störenfried, er lüpfte die Strohhüte der Frauen ebenso wie die goldbefransten Epauletten der Ausgehuniformen, mit denen sich die meisten Herren wie stolze Pfaue schmückten, so dass die Zofen und Kammerdiener nach jedem Spaziergang Mühe hatten, ihre derangierten Herrschaften wieder salonfein herzurichten.
»Sisi sagte heute Mittag, sie habe eine spezielle Überraschung nur für mich vorbereitet. Hast du eine Ahnung, was sie vorhat?« Im Spiegel suchte Olly Karls Blick.
Die zweite Woche ihres Aufenthalts in Bad Kissingen war gerade angebrochen, und wie jeden Abend konnten sie aus einer Fülle von Einladungen die interessanteste herauspicken. Olly hatte Karl, der lieber ins Theater gegangen wäre, überredet, der Einladung der österreichischen Kaiserin zu folgen, die nicht in einem der Hotels, sondern in einer eleganten privaten Villa residierte. Obwohl sie die Siebenundzwanzigjährige erst seit ein paar Tagen besser kannte, hatte sie bereits großen Gefallen an der lebhaften, ungewöhnlichen Frau gefunden. In Sisis Auftreten erkannte sich Olly selbst wieder, zumindest in ihren Jugendjahren. Wo immer Sisi auftauchte, stand
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