Die russische Herzogin
der Tag der Abreise nach Bad Kissingen. Hilflos versuchte Evelyn, Olly zu trösten, während sich Karl innig von seinem persönlichen Adjutanten Wilhelm von Spitzemberg verabschiedete, der in Stuttgart bleiben würde, um Karl sofort zu informieren, sollte sich der gesundheitliche Zustand seines Vaters weiter verschlechtern.
»Es geht doch nur um ein paar Wochen«, sagte Evelyn lahm.
»Eben«, antwortete Olly hart. »Diese kurze Zeit hätte Kosty seine Tochter wohl ertragen können. Aber nein, wieder einmal nichts als Ausreden. Karl – bist du so weit?« Abrupt rauschte sie auf die beiden Männer zu, die daraufhin hastig und eine Spur schuldbewusst auseinanderstieben.
Evelyn schluckte. Auch sie hatte den Brief, der kurz vor ihrer Abreise in Stuttgart eingetroffen war, gelesen und musste zugeben, dass die Begründung von Weras Eltern mehr als fadenscheinig klang.
»… und so bitten wir darum, dass Wera in Stuttgart bleiben möge. Das mondäne Flair Kissingens würde ihr nur unnötig Flausen in den Kopf setzen« , hatte Ollys Bruder in steifen Lettern verkündet. Mit jedem Satz, den sie las, war Evelyns Gewissen rabenschwärzer geworden. Auch jetzt, als Olly mit Karl am Arm zurückkam, konnte sie ihr kaum in die Augen schauen.
»Warum schreibt Kosty nicht einfach, dass er keine Lust hat, Wera zu sehen? Alles wäre besser statt dieser lächerlichen Ausflüchte. Was ist mein Bruder nur für ein Egoist!« Der bittere Klang von Ollys Stimme stand in einem seltsamen Kontrast zu der Süße des Rosenduftes, den die voll in Blüte stehenden Sträucher auf der oberen Terrasse der Villa Berg ausströmten.
Als Evelyn Ollys vor Wut funkelnde Augen sah, schwappte eine Welle Panik über sie. Was, wenn Olly je erfuhr, dass sie es gewesen war, die für Weras Verbleib in Stuttgart gesorgt hatte? Dann wäre es nicht nur aus und vorbei mit ihrer anstehenden Ernennung zur Ehrendame, dann würde auch ihre innige Freundschaft mit Olly einen Riss bekommen, der wahrscheinlich nicht so leicht zu flicken wäre.
Wie mit Olly besprochen hatte sie der Zarenmutter einen Brief geschrieben, allerdings ohne ihn ihr noch einmal zu zeigen, bevor sie ihn abschickte. Offen und ehrlich hatte sie geschildert, wie anstrengend die Situation mit Wera für Olly war und dass die Kronprinzessin dringend Erholung nötig hätte. Dass sie jedoch weder auf den Rat ihrer Hofdame noch auf den ihres Mannes hören wollte. Selbst die mahnenden Worte ihres persönlichen Arztes Dr. Kornbeck ignorierte Olly stur: Entweder sie würde mit Wera in die Kur fahren oder gar nicht! Evelyn hatte ihren Brief mit der Frage geschlossen, ob Alexandra eventuell ein Weg einfiele, der geliebten Tochter doch noch zu einer Erholungsphase zu verhelfen?
Offenbar war der Zarenmutter tatsächlich etwas eingefallen …
Während die letzten Koffer auf die Wagen geladen wurden, tauchte an einem der Fenster Weras Strubbelkopf auf.
»Tante Olly, Onkel Karl, Evelyn – wartet auf mich, ich komme!« Mit einem lauten Knall fiel das Fenster zu.
»Da kommt er, unser Quälgeist. Ich bin ehrlich gesagt froh, für eine Weile meine Ruhe vor Wera zu haben«, sagte Karl.
»Wiekannst du so gemein sein!« Mit einem Schluchzer wandte Olly sich ab.
Evelyn schluckte angesichts von Ollys Trennungsschmerz. Nur noch ein paar unangenehme Minuten, und danach würden Wochen himmlischer Ruhe auf sie warten …
»Tante, warum weinst du denn? Bin ich schuld? Habe ich etwas getan? War ich wieder ein böses Mädchen?« Ungelenk streichelte Wera Ollys Arm.
»Gar nichts hast du falsch gemacht. Du bist das liebste Kind der Welt«, schluchzte Olly und umarmte Wera so heftig, dass diese eine Grimasse zog.
»Machen Sie sich keine Sorgen, verehrte Kronprinzessin, noch nie ist einem meiner Schützlinge unter meiner Aufsicht Unheil geschehen, das kann ich Ihnen versichern. Und ich werde auch gewiss nicht zu streng mit Wera sein, dieses Thema haben wir ja ein für alle Mal geklärt«, sagte die Gouvernante mit einem kleinen Zwinkern, woraufhin Olly tatsächlich eine Spur ruhiger wirkte.
Unter niedergeschlagenen Lidern musterte Evelyn Helene genauer. Täuschte sie sich oder leuchteten Madame Trupows Augen heute tatsächlich auf eine ungewohnte Art? Ihre Wangen waren rosig rot. Und war der Zug um ihren Mund nicht weniger verkniffen als sonst?
Evelyn konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen. Anscheinend waren die Gerüchte, die besagten, die Gouvernante hätte einen russischen Galan gefunden, nicht ganz aus
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