Die russische Herzogin
ums Tischerücken! Evelyn wurde schwindlig. Mit unsicheren Schritten steuerte sie eine der vielen Sitzbänke an, die den Flanierweg säumten, und ließ sich nieder. Wahrheiten, vor denen sie sich bisher verschlossen hatte, erschienen vor ihrem inneren Auge, blendeten sie und machten sie sehend zugleich.
Krankhafte Beziehungen. Stuttgarter Verhältnisse. Krankhafte Beziehungen …
»Ich … weiß nicht, was ich sagen soll«, krächzte sie heiser, während der Wind ein paar unreife Kapseln aus der dichten Blätterkrone des Kastanienbaumes auf sie niederprasseln ließ. »Vielleicht sollte man auf lächerlichen Klatsch einfach nicht so viel geben. Wenn es um gemeine Lügen geht, sind die Leute immer schnell dabei.«
»Siewissen genau, dass ich Lügen problemlos enttarne und auf Klatsch allein nichts geben würde«, erwiderte der russische Fürst barsch. »Obwohl auch das Gerede inzwischen besorgniserregende Ausmaße angenommen hat: Ollys Familie, die Gäste, ja sogar in den Petersburger Salons wird neuerdings über Karl und Olly getuschelt.«
»Aber … das ist ja schrecklich! Was tuscheln die Leute denn?«, rief Evelyn verzweifelt. »Ich lebe Tag für Tag mit dem Kronprinzenpaar zusammen, doch mehr als eine Beobachtung hier, eine Vermutung da könnte ich nicht zum Besten geben. Niemals würde ich es wagen, daraus voreilige Schlüsse zu ziehen.«
»Vielleicht haben Sie einfach zu lange den Kopf in den Sand gesteckt, meine Liebe. Sie wollten aus Liebe zu Olga die Wahrheit nicht erkennen. Denn im Gegensatz zu Ihnen haben meine Leute in Stuttgart ganz andere, sehr viel ernstere Erkenntnisse gewonnen. Das Ansehen einer Romanow ist den Russen nach wie vor heilig, Gottes Gnade sei mit uns, wenn die Leute herausfinden, mit was für einer Art … Mann die Zarentochter in Wahrheit verheiratet ist.«
Meine Leute – wie er das sagte! Wer waren diese Leute? Und was berichteten sie dem Fürsten? Evelyn fröstelte es. O Gott, mach, dass das nur ein böser Traum ist, betete sie stumm. Ich will das nicht hören. Alles soll wieder gut sein, so wie früher. Abrupt wandte sie sich dem Fürsten zu.
»Ich flehe Sie an, kein Wort davon zur Kronprinzessin! Sie ist, was Karls Umtriebe angeht, völlig ahnungslos. Vor einiger Zeit hat sie die Vermutung geäußert, er habe eine Geliebte, aber selbst diesen Gedanken hat sie bald wieder verworfen.«
»Eine Geliebte! Von mir aus könnte er fünf an jeder Hand haben«, seufzte der Fürst. »Sie wollen Olga tatsächlich weiter anlügen? Sind Sie Ihrer Herrin nicht die Wahrheit über ihren Mann schuldig?«
Evelyn zuckte zusammen. »Für wie herzlos und gemein halten Sie mich eigentlich? Ich würde mein Leben für Olga geben! Mir bricht es fast das Herz, sie anzulügen. Aber sollte sie je die Wahrheit über Karl erfahren, würde es ihr das Herz brechen.«
»IhreSkrupel in Ehren, aber irgendwann erfährt Olga die Wahrheit sowieso, für immer und ewig lassen sich solche Umtriebe nicht unter dem Mantel der Verschwiegenheit halten. Wäre es nicht besser, Olga die Angelegenheit kontrolliert beizubringen? Sie ist bestimmt nicht so ahnungslos, wie Sie glauben«, sagte Gortschakow.
Evelyn zuckte unglücklich mit den Schultern. Ahnte Olly wirklich etwas? Und waren diese Ahnungen der Grund dafür, dass die Kronprinzessin vor nicht allzu langer Zeit eine weitere Hofdame eingestellt hatte? Versprach sie sich von Gräfin Taube, so hieß die Dame, mehr Offenheit als von ihr? Andererseits: Woher sollte die Gräfin mehr über Karls Verhalten wissen, als sie es tat? Oder … war Gräfin Taube womöglich eine Spionin von Gortschakow? Auf einmal erschien Evelyn nichts mehr unmöglich.
Einen Moment lang saßen beide vertieft in ihre Gedanken da, dann brach Evelyn das Schweigen.
»Warum reden Sie dem Prinzen eigentlich nicht ins Gewissen? Es geht doch um seinen Lebenswandel!«
Die Sorgenfalten auf der Stirn des Fürsten vertieften sich.
»Glauben Sie etwa, solche Gespräche hätte es in der Vergangenheit nicht gegeben? Unter Aufbietung sämtlicher diplomatischer und menschlicher Fähigkeiten habe ich dies mehr als einmal versucht. Gleich nach der Hochzeit habe ich im Guten auf den Kronprinzen eingeredet, habe versucht, ihm vor Augen zu führen, wie sehr er sich selbst mit seinem Verhalten schadet, und dass sein internationaler Ruf darunter leidet. Ich wollte ihm erklären, dass Olga die größte Chance seines Lebens sei, ein Geschenk des Himmels. Karl war sehr verständig, hat mir in allen Punkten recht
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