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Die Saat der Bestie (German Edition)

Die Saat der Bestie (German Edition)

Titel: Die Saat der Bestie (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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bemerkte, mit wie wenig Verstand er damals durch sein Leben ging: blind, anonym und gesichtslos wie all die anderen unscheinbaren Ameisen in ihrem gigantischen, stinkenden Bau.
    Im Grunde kann er glücklich darüber sein, dass der Motorenlärm und das Stimmengewirr verstummt sind und dass der dreckige Fluss stinkender Leiber in den Straßen zum Stillstand gekommen und schließlich versiegt ist.
    Als sein altes Leben starb, wachte er auf. Er streifte all die Fesseln der Moderne ab, wusch sich und bemerkte plötzlich, was wirklich im Leben zählt.
    Während David die Stahlskelette am anderen Ufer betrachtet, verhallen die Geräusche allmählich in der Ferne und zurück bleibt nichts als das schwere Stöhnen einer sterbenden Welt und sein eigenes Atmen. In solchen Momenten ist er froh darüber, dass er alleine ist, denn eines hat er in den letzten Monaten erkannt: Erst wenn man keinen anderen Menschen ansehen muss, geht man mit offenen Augen durch die Welt.
    Er fragt sich, wann er zum letzten Mal mit jemand anderem als mit Lilly oder sich selbst geredet hat.
    Da gab es einmal einen Jungen, der in die Stadt kam und von Seuchen und Fieber befallen war. Direkt am Anfang der Katastrophe, als David noch nicht verstand, was mit der Welt geschehen ist. Es ist noch Winter gewesen und die Tage kalt und feucht.
    Der Junge war vielleicht dreizehn Jahre alt. Sie redeten ein wenig miteinander, während David ihn zu behandeln versuchte. Er sagte, dass sein Name Kenny sei und erzählte ihm von einer anderen Stadt, die in einer gewaltigen Feuersbrunst niedergebrannt und früher einmal seine Heimat gewesen ist. Er erzählte von Toten, die das Wasser des Flusses in jener Stadt verseucht haben, und davon, wie er seine Mutter sterben sah; einfach so, wie all die anderen. Er sah ihr beim Sterben zu, verstand nicht und konnte auch nicht helfen. Tief in seinem Innern trug er die letzten Worte seiner Mutter mit sich herum, als seien sie das Wertvollste, das er je in seinem Leben besessen hat. Vielleicht waren sie das sogar. Kenny weinte, als er von seiner Mutter erzählte, an deren Aussehen er sich nach den wenigen Wochen, die seither vergangen waren, schon nicht mehr erinnern konnte. David mochte den Jungen, denn er war wie er. Er versuchte alles, um das tückische Fieber des Jungen zu senken. Doch David hatte noch nie etwas in seinem Leben richtig gemacht, so sehr er es auch in seiner Unwissenheit versucht hat. David war nicht der erhoffte Held für den Jungen.
    Zwei Tage später starb Kenny und David redete weiter mit ihm, während er ihn im Park neben seinem Haus in der noch immer gefrorenen Erde begrub.
    Ein paar Tage hat er ihn noch besucht und ihn gefragt, wie es ihm in seinem neuen Leben und seiner neuen Welt denn erginge. Er war wirklich neugierig darauf, was Kenny ihm erzählen würde, war neugierig und voller Neid auf den Tod des Jungen. Hätte der Junge ihm erzählt, dass er in dieser neuen, unbekannten Welt Darleen gesehen und kennengelernt hat, wäre David ihm ohne zu zögern gefolgt.
    Doch Ken hat nie geantwortet, und so ging David irgendwann nicht mehr zu ihm. Der Junge ist der letzte Mensch gewesen, den er gesehen hat. Und das ist auch gut so.
    Er hat gelernt, auf sich selbst aufzupassen und sein Leben so zu gestalten, wie es ihm gefällt. Keine anderen Ameisen, denen er etwas beweisen muss. Das sind seine Stadt, sein Fluss und sein Garten. Hier gibt es nur ihn und das, was er sehen und hören will. Hier gibt es Lilly mit den rotgeschminkten, schwarzen Lippen und den alten Mann, der ihn ab und zu im Spiegel begrüßt.
    David erschreckt sich oft vor diesem Mann, weil er ihm zeigt, wie er einmal aussehen wird, wenn er tot ist. Und doch ist dieser Fremde der einzige, der ihn verstehen kann, der einzige, der weiß, wie es sich anfühlt, jeden Tag ein bisschen mehr zu sterben.
    Manchmal hat David das Gefühl, dass es da noch einen anderen im Spiegel gibt. Jemanden, den er in den Augen des alten Mannes sehen kann, der sich versteckt und um die Ecke späht. Jemanden wie Frank, seinen unsichtbaren Freund, oder seinen Hasen Harvey. Doch meistens sieht er nur David, und der Anblick macht ihm Angst. Deshalb blickt er nicht mehr so oft in den Spiegel.
    Ein Geräusch reißt ihn aus seinen Gedanken. Im ersten Moment wird ihm schwindlig, als würde er abrupt aus einem Traum gerissen. Sein Blut schießt in plötzlichem Aufruhr wie kaltes Wasser durch seinen Körper.
    Davids Blick fällt auf die Ruinenstadt jenseits des Flusses, doch dann
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