Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Saat der Bestie (German Edition)

Die Saat der Bestie (German Edition)

Titel: Die Saat der Bestie (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
Vom Netzwerk:
merkt er, dass das Geräusch aus der anderen Richtung kam.
    Das Gefühl, beobachtet zu werden, breitet sich wie kaltes Feuer in ihm aus. Ob vor Furcht oder Anspannung, kann er nicht sagen. Doch die Kälte lässt ihn wieder klar denken. Er dreht sich um, springt auf die Füße und greift gleichzeitig nach dem Gewehr, das immer neben ihm auf dem Holzsteg liegt. Ein oft einstudierter, anmutiger Tanz.
    Am anderen Ende des Steges steht eine Frau. Seine Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen, sein Herz beginnt, unkontrolliert in der viel zu kleinen Brust zu hämmern. Das Gewehr hält er in Höhe der Hüfte, den Finger am Abzug.
    Die Frau hebt die Arme und kommt langsam näher. In einer Hand trägt sie ein Schrotgewehr, dessen Lauf in den Himmel zeigt, in der anderen hält sie eine Plastiktüte. Auf dem Rücken scheint sie eine Art Rucksack zu tragen, doch David kann es nicht mit Bestimmtheit sagen.
    Sie ist jünger als er, jedoch ebenso ausgezehrt. Sie trägt eine Jeans und eine Bluse, beides wirkt sauber und gepflegt, als wären die Sachen neu, darüber eine alte, abgewetzte Lederjacke. Ihr Haar ist lang und schmutzig und verdeckt teilweise ihr Gesicht, das ebenso dreckig ist. Ihre Bewegungen sind langsam und müde. Unbeirrt kommt sie näher, ihr Gesicht eine stumpfe Maske.
    Ungefähr fünf Meter vor dem Lauf der Waffe bleibt sie stehen. Mit ruhigem Blick mustert sie David. Das Gewehr scheint sie nicht zu beeindrucken. Ihre Augen sind gerötet und liegen tief in schwarzgeränderten Höhlen.
    »Wer bist du?«
    »Sam«, antwortet sie mit krächzender Stimme und blickt David unverwandt in die Augen. »Samantha, wenn dir das besser gefällt.«
    Es sind die ersten Worte, die er seit einem Menschenzeitalter hört. Der Klang erscheint ihm fremdartig und auf seltsame Weise interessant, als würde ein Kind ein altes Spielzeug entdecken, das lange im hinteren Teil eines Schrankes verborgen lag.
    »Und du?«
    »David.«
    Es ist noch seltsamer, die eigene Stimme dazu zu benutzen, mit jemand anderem als mit Lilly, Frank oder dem Toten im Spiegel zu sprechen.
    Die Frau nickt. Ihre Hände sind immer noch erhoben. Unter der im Wind flatternden Bluse scheint sich kein Leib zu befinden. Sie muss seit Ewigkeiten nicht genug gegessen haben.
    »Was willst du hier?«
    Sam zuckt mit den Schultern. Ihr Blick geht für einen kurzen Moment an ihm vorbei, zu den Stahlruinen auf der anderen Flussseite.
    »Ist das deine Stadt?«
    »Ja, das ist meine Stadt.«
    »Schon immer?«
    »Von Beginn an.«
    Sam nickt erneut. Jetzt endlich fällt ihr Blick auf sein Gewehr. Ihr Gesicht bleibt so ausdruckslos wie das einer Plastikpuppe. »Könntest du das runternehmen?«
    David schüttelt den Kopf. Der Wind wird stärker und fährt mit kalten Fingern unter seine Jacke. Oder kommt die Kälte von innen?
    »Du kannst deine Hände herunternehmen. Aber keine Dummheiten.«
    Sie tut es, wobei sich ihr Körper merklich entspannt. Ihr Blick wechselt zwischen Davids Augen und dem Gewehrlauf. Dann schließt sie für einige Sekunden die Lider, als lausche sie auf eine innere Stimme. David findet, dass sie wie eine Tote aussieht.
    »Wo kommst du her?«
    Sam öffnet ihre Augen wieder und zuckt gleichmütig mit den Schultern. »Ich kenne die Namen der Städte nicht, in denen ich war.«
    »Die Städte haben keine Namen mehr.«
    Sie nickt.
    »Hier kannst du nicht bleiben.«
    Ihr Blick geht erneut an David vorbei, zur Silhouette der Ameisenstadt auf der anderen Seite des Flusses. Plötzlich hat sie etwas Verlorenes an sich. Ihre Arme hängen kraftlos an den Seiten herab, als wäre das Gewicht von Gewehr und Tasche zu viel für ihren Körper. Ihre Schultern wirken so schmal wie die eines kleinen Mädchens. David spürt, wie sich etwas in ihm regt. Etwas, das ihm Angst macht. Plötzlich tun ihm seine harschen Worte leid, doch er darf keine Schwäche zeigen.
    »Ist deine Stadt, hm?«
    Er blickt sie unverwandt an. »Ist meine Stadt.«
    »Gibst du mir was zu essen?«
    David antwortet nicht. Stattdessen zerreißt das Spannen des Gewehrhahns die Stille, die sie beide wie ein Tuch umschlingt. Irgendetwas geschieht mit ihm. Er kann spüren, wie Bilder in ihm versuchen, an die Oberfläche zu steigen. Bilder eines Traumes, an den er sich nicht mehr erinnern kann, an den er sich nicht mehr erinnern will . Es ist, als würde er sich selbst dabei beobachten, wie er die Frau mit dem Gewehr bedroht. Irgendetwas entzieht ihm die Kontrolle. Irgendetwas drängt sich aus seinem Unterbewusstsein in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher