Die Saat der Bestie (German Edition)
weiß sie. Ihre Schwester wird nicht dort sein. Niemand wird dort sein. Doch jeder Mensch braucht ein Ziel vor Augen, das ihn leitet, sei es auch noch so unvorstellbar.
Sam blickt sich noch einmal um. Die Stadt ist ein schlafender Koloss. Still, schrecklich und jederzeit bereit, aufzuspringen und sich auf sie zu stürzen. Ihr Blick fällt auf das Schaufenster. Irgendwo in der Dunkelheit des Ladens liegt ihre Lederjacke, das einzige, das ihr aus dem alten Leben geblieben ist. Doch dort in der Dunkelheit ist auch David.
Sie geht die Straße entlang, langsam und mit leisen Schritten. Ihr Kopf schmerzt. Sie weiß, dass ihre Knie den Dienst quittieren werden, wenn sie schneller geht. Sam läuft in Richtung Supermarkt, einen der wenigen Wege, die sie von David kennt. Er nannte die Mall sein Vorratslager.
Als der große Parkplatz mit den hohen Fahnenmasten und dem dunklen Bau in seiner Mitte hinter einer Gruppe von Bäumen auftaucht, hat Sams Fuß wieder angefangen zu bluten. Sie geht ohne jede Vorsicht auf den Eingang des Marktes zu. Der Kampf mit David hat ihre letzten Kraftreserven gekostet. Warum sollte sie ihre Anwesenheit noch verbergen? Wenn es ein weiteres Monster wie David in der Stadt geben sollte, würde sie an ihrem Schicksal nichts mehr ändern können. Ein zweiter David hätte leichtes Spiel mit ihr.
Sie schiebt die Holzplatte zur Seite, mit der er den Eingang verbarrikadiert hat, und betritt die große, kühle Halle. Der Gestank von verdorbenen Lebensmitteln und Schimmel schlägt ihr entgegen. Durch die Fenster im oberen Bereich des Marktes sickert erstes Tageslicht herein und verwandelt die Regale in graue Monstren.
In der Freizeitabteilung findet sie einen robusten Rucksack, den sie mit allen möglichen Dingen füllt, die ihr im Augenblick als wichtig erscheinen. Zum Nachdenken ist sie zu müde, deshalb greift sie wahllos nach Obst in Dosen, Trockenfleisch, Bohnen, Erbsen – ebenfalls alles in Dosen – Feuerzeugen, Schmerztabletten, Aufputschmitteln, einer Flasche Whiskey, Honig, eingeschweißte Würste und mehrere kleine Flaschen mit Wasser. Eine davon trinkt sie sofort, rülpst und wirft die leere Flasche über das Regal in den nächsten Gang.
In der Drogerieabteilung reibt sie sich ihren geschwollenen und blutenden Fuß mit verschiedenen Salben ein, von denen sie annimmt, dass sie helfen können, und verbindet die Wunde. Dann steckt sie die Salben und mehrere frische Verbände in die Seitentaschen des Rucksacks.
Im Büro des Filialleiters findet sie eine Ruger in der obersten Schublade, mitten auf einen Stapel zerknitterter Pornohefte. Daneben liegt das gerahmte Foto einer glücklichen Familie. Sam betrachtet die Waffe, lässt die Trommel herausspringen und hätte vor Freude fast geschrien, als sie sechs 9-mm Kugeln vorfindet. Der Typ, der den Laden geführt hatte, war wohl ein verantwortungsbewusster Mensch gewesen. Entweder das, oder er war einfach nur ein perverser Narr, der den Kick der Waffe brauchte, während er seine eigene Waffe beim Studieren der Pornohefte bearbeitete und dabei seiner Frau auf dem Foto zuzwinkerte.
Doch Sam dankt Gott aus tiefstem Herzen, dass er einen derart pflichtbewussten Mann in dieses enge Büro gesteckt hat. Auch wenn ihr sonst nichts einfällt, wofür sie Gott danken kann, diese Sache hat er ausnahmsweise einmal gut gemacht.
Sie steckt die Ruger in den Bund ihrer Hose und zusätzlich zwei Schachteln Munition in den Rucksack, dessen Kapazität nun vollends erschöpft ist. Als sie wieder auf dem Parkplatz steht, atmet sie tief durch und lässt ihren Blick über den grauen Himmel wandern. Allmählich erwacht die Stadt aus ihrem unschuldigen Schlaf.
Unter einem Baum steht ein kleiner Toyota, dessen Scheiben mit Dreck und verrotteten Blättern überzogen sind. Sie denkt daran, wie sie David gesagt hat, dass sie eine miese Autofahrerin sei. Aus diesem Grund ist sie seit Wochen zu Fuß unterwegs. Sie hat nicht monatelang in dieser toten Welt überlebt, um zu guter Letzt mit einem Auto gegen einen Baum zu rasen.
Sam blickt an sich herab und betrachtet ihren bandagierten Fuß. An ihren Rucksack hat sie zwei neue Laufschuhe gebunden, die sie in der Kinderabteilung der Mall fand. Ihre Füße waren schon immer klein gewesen. Sobald die Schwellung abgeklungen ist, wird sie die Schuhe anprobieren. Bis es soweit ist, wird sie ihre Reise barfuß fortführen. Jeder Schmerz, den sie dabei spürt, wird sie daran erinnern, dass sie am Leben ist.
Sie blickt sich erneut auf der
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