Die Saat der Bestie (German Edition)
der Ferne flimmern sieht, bleibt sie lange stehen und starrt auf den grauen Schatten. Eine Stadt ist nie völlig ruhig oder dunkel. Selbst in der Nacht erhellen Lichter den Himmel und der Wind trägt Gesang, Musik und Motorenlärm über das Land. Das ist das einzig richtig Unheimliche an dieser neuen Zeit: Eine Metropole wie New York liegt finster und tot wie ein alter Dinosaurier inmitten von Feldern und Wäldern, ohne zu Atmen, ohne Leben.
Der Anblick hat etwas Beängstigendes an sich. Das New York der alten Welt hat in Sam bereits eine tiefe Furcht erwachen lassen. Die Menschen waren ihr seltsam erschienen und die Luft in den Straßenschluchten des Big Apple war auf eine obszöne Weise dicker und saurer als die Luft in einem kleinen Städtchen wie Waterbury. Doch jetzt, da New York sein Leben ausgehaucht hat und niedergestreckt am Horizont liegt, kommt ihr die Stadt wie ein verwester Leichnam vor, der sich eines Tages wieder von den Toten erheben wird, um mit seinen schwelenden und verkohlten Ruinen erneut über das verbrannte Land der Erde zu wandeln.
New York ist ein weiterer Leichenfleck auf dem Kadaver der Welt.
Sam beschließt, einen erneuten Umweg in Kauf zu nehmen. Die Stadt erscheint ihr tot noch gefährlicher als lebendig. Sie nimmt die nächste Ausfahrt des Highways, der direkt nach New York führen würde, und sucht ihren Weg durch kleine Siedlungen und Dörfer, die wie Grabsteine aus der Erde ragen.
Die Nächte verbringt sie in Ställen von abseits gelegenen Farmhäusern, manchmal schläft sie auch im Führerhaus eines Trucks, einmal in einem der Gästezimmer eines heruntergekommenen Motels. Sie sucht sich das Zimmer mit der Nummer Eins aus, so wie es Marion Crane im ›Bates Motel‹ getan hat. Es hat etwas Verruchtes und Leichtsinniges an sich, worüber Sam so lange lachen muss, bis sie erschöpft auf dem Bett des Zimmers einschläft.
An einem Nachmittag, an dem es regnet, erreicht sie den kleinen Ort, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern kann. Der Ort, in dem Maria lebt.
***
Das Haus wirkt düster und verlassen und ruft unangenehme Erinnerungen in Sam wach. Hier hat sie ihren ersten Menschen getötet.
Der Gedanke an Bud lässt sie mit dem Gedanken spielen, den Ort so schnell wie möglich hinter sich zu lassen, doch entgegen aller Vernunft klopft sie an die Haustür, tritt einen Schritt zurück und blickt zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. Hinter einem davon hatte sie die Nacht verbracht und hinter einem davon war sie vergewaltigt worden.
Die Erinnerungen an jene Nacht legen sich wie ein Schatten auf ihren Verstand. Mit Sicherheit hat Maria den Ort schon lange verlassen. Vielleicht aber hat sie sich in ihrer Verzweiflung wieder mit Bud vereint. Der Gedanke ermüdet Sam, und sie beginnt zu frieren. Ein leises Geräusch reißt sie in die Wirklichkeit zurück. Die Tür wird ein kleines Stück aufgezogen. Der schwarze Lauf eines Gewehrs erscheint und zielt direkt auf ihren Kopf.
»Maria, ich bin es. Samantha. Wie geht es dir?«
Die Waffe bleibt starr auf sie gerichtet, doch die Tür öffnet sich und gibt ein dunkles Rechteck frei, in dem die abgezehrte Gestalt einer kleinen Frau erscheint.
»Verdammt, Maria …«, entfährt es Sam, als sie die eingefallenen Wangen und die tief in den Höhlen liegenden Augen der Frau erblickt.
Maria lächelt, was ihr das Aussehen eines grinsenden Totenschädels verleiht. Ihr Kleid hängt wie ein farbloser Fetzen an ihrem Körper, als würde er eine Vogelscheuche schmücken. Die Haare sind wirr und verklebt.
Maria lässt das Gewehr sinken und tritt zur Seite. Sam folgt ihr ins Haus, das lediglich von einigen heruntergebrannten Kerzenstummeln erleuchtet wird. Sie hat das absurde Gefühl, nach Hause zu kommen. Gleichzeitig kommt sie sich aber vor, als würde sie das Gemälde eines ihrer Alpträume betreten.
Seit ihrem letzten Besuch hat sich nichts verändert. Die Zimmer sind noch immer zu düster und zu klein. Die Luft riecht nach Moder und alten Lebensmitteln, die in Ecken verrotten.
Maria führt sie in die Wohnstube, in der sie auch bei ihrem ersten Besuch gesessen haben, damals noch mit Bud, Marias Mann, der jetzt tot und begraben im Garten hinter dem Haus liegt.
Sam setzt sich auf denselben Sessel wie damals. Maria lächelt sie an, ohne ein Wort zu sagen, und verschwindet dann in der Küche, um gleich darauf mit einer Flasche Wasser zurückzukommen. Sie macht kleine Schritte auf zitternden, dünnen Beinen, die wie blanke Knochen unter dem
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