Die Saat der Bestie (German Edition)
alten Kleid herausragen.
Sie sitzen sich lange schweigend gegenüber. Maria hat auch damals nicht viel gesprochen. Jetzt, da sie allein zurückgeblieben ist, scheint sie das Sprechen verlernt zu haben.
Sie trinken abwechselnd aus der Flasche und betrachten sich gegenseitig. Maria zeigt dieses seltsame Lächeln, das an die Gesichter vom Wahnsinn gezeichneter Schauspieler aus den Filmen der sechziger Jahre erinnert. Sams Herz droht zu zerreißen. Sie hat die kleine Frau gemocht. Ihre braunen Augen hatten eine warme, mütterliche Güte ausgedrückt und ihr scheues Lächeln war das einer besten Freundin gewesen. Jetzt sind die Augen erloschen und das Lächeln eine grässliche Maske.
Als sich die Stille in dem Haus immer näher an sie heranschleicht, beginnt Sam zu erzählen. Sie erzählt von David und dem Anlegesteg, von dem Reh, das sie auf der anderen Flussseite gesehen hat, und von der Nacht, die sie mit David verbrachte. Sie sagt Maria, dass sie David wirklich gern hatte und sie sogar mit dem Gedanken spielte, bei ihm zu bleiben, damit sie beide nicht so alleine waren.
Sie zögert, als sie Marias leuchtende Augen und ihr scheues Lächeln bemerkt, als sie von David erzählt. Sie weiß, dass Maria in ihrer Geschichte Bud sieht. Dann schildert Sam ihre Erlebnisse nach David, ihr Martyrium in der Kirche und von Bill, der eigentlich David war, und davon, was er mit ihr auf dem harten Holztisch getan hat. Sie erzählt von ihrer Flucht und dem Plan, David für das, was er ihr angetan hat, büßen zu lassen, auch wenn dieser Plan entgegen alle Vernunft war.
Maria hört ihr schweigend zu und betrachtet Sam als sei sie ein Engel, der direkt vom Himmel gestiegen ist, um ihr Weihnachtsgeschenke zu bringen. Sam spürt, wie gut es ihr tut, mit jemandem über all die schrecklichen Dinge zu sprechen, die sie in der Stadt erlebt hat. Mit jedem Wort, das ihren Mund verlässt, wird ihr Herz ein klein wenig leichter. Und so erzählt sie bis spät in die Nacht, während Maria nur zuhört und sich ihr Gesichtsausdruck entsprechend der Geschichte verändert.
Als die Kerze auf dem Tisch mit einem feinen Zischen verlöscht und nur ein dünnes Rauchfähnchen zurücklässt, zeigt Maria ihr ein Zimmer, in dem sie die Nacht verbringen kann. Ein anderes Zimmer als bei ihrem letzten Besuch. Beide Frauen wissen auch ohne Worte, dass Sam nicht in jenem Bett schlafen kann, in dem Bud versucht hat, sie zu vergewaltigen und Sam ihn mit ihrem Messer tötete.
Als Sam am Morgen erwacht, muss sie sich zum ersten Mal übergeben.
***
»Du erwartest ein Kind.«
Sie stehen am Grab von Bud, das mit verwelkten Blumen geschmückt ist und dessen Erde so schwarz wie die Nacht ist.
Maria sieht sie von der Seite an. Sam starrt gedankenverloren auf den schwarzen Erdhügel.
»Nein«, flüstert sie schließlich und spürt gleichzeitig, wie sie rückfällig wird und einer erneuten Lüge hinterher laufen will.
Maria kniet vor dem Grab nieder und streicht einige Zweige zur Seite, die Wind und Regen dort abgelegt haben. Sam ist sich sicher, dass Maria schon lange nicht mehr hier draußen war.
»Ich kenne die Zeichen«, sagt Maria schließlich leise, als würde sie mit Bud sprechen. »Ich war früher Krankenschwester und weiß, wann eine Frau schwanger ist.«
Sie steht auf und sieht Sam direkt an. Zum ersten Mal ist ihr Blick fest, aber auch voller Mitgefühl.
»Du hast dich heute Morgen übergeben und wirkst erschöpft und abgekämpft. Wie war es an den Tagen, bevor du zu mir gekommen bist?«
Sam starrt an Maria vorbei und sieht den verwelkten Blumen dabei zu, wie sie ihr traurig im Wind zuwinken. Der Morgen ist kalt. Eine Kälte, die unter die Kleidung kriecht und sich in ihre Gelenke und Knochen frisst. Das kann nicht sein , denkt sie, doch die Worte in ihrem Verstand verhallen kraftlos.
Maria wendet sich wieder von ihr ab und blickt mit vor der Brust verschränkten Händen auf das Grab hinab; gerade so, als würde sie ein stummes Gebet sprechen. So stehen sie lange in einer morgendlichen Kälte, die nur Sam als Kälte empfindet.
»Du bekommst ein Kind«, flüstert Maria schließlich leise. »Du wirst nicht der letzte Mensch auf Erden sein.«
***
Noch in derselben Nacht lässt sie Maria und das kleine Dorf hinter sich zurück.
Es hat zu regnen begonnen. Während die Wolken tief über dem dunklen Land hängen und Sam nicht sagen kann, wo der Himmel aufhört und die Erde beginnt, glitzern die Felder und die Straße wie winzige Diamanten inmitten
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