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Die Saat der Finsternis (German Edition)

Die Saat der Finsternis (German Edition)

Titel: Die Saat der Finsternis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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riskiert, um ihm, Lys, in Todesgefahr beizustehen. Das bedeutete, dass die Erinnerungen nicht verloren waren, nur tief verschüttet in Kirians Bewusstsein. Wenn es aber solches Leid für ihn bedeutete, wie könnte Lys von ihm verlangen, diese Erinnerungen freizulegen?
    Vielleicht wäre es besser gewesen, hätte die Erde mich verschlungen … dann könnte er ein friedliches Leben mit den anderen Sklaven führen. Das ist es doch, was er will!
    Er biss sich auf die Lippen, so sehr widerte die Vorstellung ihn an, Kirian könnte zufrieden mit seiner Versklavung sein. Unglücklich rollte er sich zusammen, auf der Suche nach einer Haltung, in der sich kein Steinchen in seinen Körper bohrte. Jetzt, wo er keine Felsbrocken mehr schleppte, kühlte er rasch aus. Kälte strahlte vom Boden hoch und brannte auf der bloßen zerschürften Haut – er hatte sein Hemd in Fetzen gerissen für die Verbände, ohne darüber nachzudenken, dass er dies hinterher vielleicht bereuen könnte. Hier unten spürte er leichten Luftzug, der zwar ihr Überleben sicherte und gegen den Staub half, der durch den Einsturz aufgewirbelt wurde, aber er ließ ihn noch mehr auskühlen. Sein Kopf hämmerte, jede Bewegung verursachte Schwindel. Lys vermisste Marjis, das kleine Mädchen war ihm ans Herz gewachsen. Er vermisste seinen Sohn, so sehr, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Es gab keine Hoffnung, dass irgendetwas gut werden könnte, sich etwas anderes einzureden war Dummheit. Wie gerne wäre er eingeschlafen, um all dem Elend entfliehen zu können!
     
    Lamár spürte die Unruhe seines Gefährten. Auch ihm war kalt, doch die Erschöpfung war deutlich stärker. Es war verlockend, ihr nachzugeben und für einige Stunden den andauernden Schmerzen und der Angst, dieser Tunnel könnte zu ihrem Grab werden, zu entkommen. Aber jedes Mal, wenn er beinahe weggedöst wäre, hörte er Lys neben sich, der erbärmlich zu frieren schien. Jedenfalls fühlte und hörte er ihn zittern, trotz des Abstands zwischen ihnen. Die Dunkelheit raubte ihm die Sicht, schärfte dafür allerdings all seine anderen Sinne. Kein echter Segen, zumindest im Augenblick nicht.
    „Lieg doch still!“, brummte er wütend, als das Rascheln neben ihm ihn schon wieder am Schlaf hinderte.
    „Verzeih“, hauchte Lys und schaffte es irgendwie, das Zittern zu unterdrücken. Lamár drehte sich weg, nun wütend auf sich selbst. Lys trug keine Schuld an seinem Zustand, es war ungerecht, ihn so anzufahren. Lamár rutschte herum, bis er eine Position fand, in der seine Schürfwunden nicht protestierten. Dabei lauschte er auf die Atemzüge seines Gefährten, hoffte, Lys würde irgendwann von der Erschöpfung übermannt werden. Irgendetwas klang merkwürdig … Es dauerte eine Weile, bis Kirian begriff, was das regelmäßige, seltsame leise Keuchen bedeutete: Lys hielt offenbar den Atem an, vielleicht, um seinen Körper ruhig halten zu können, und schnappte nur hastig nach Luft, wenn es nicht mehr anders ging.
    Was bei allen verfluchten schattenfressenden Dämonen ist bloß in ihn gefahren? Will er sich umbringen, damit ich schlafen kann?, dachte Lamár fassungslos. Bevor er nachdenken konnte, ob das eine gute Idee war oder nicht, war er bereits herumgerollt und hatte ihn zu sich herangezogen. Lys schrie leise auf, ob nun aus Schmerz oder Überraschung, wehrte sich aber nicht.
    „Es tut mir leid“, wisperte Lamár, überrascht, wie sehr er auch dieses Mal die Nähe genoss. Lys glitt mit solcher Selbstverständlichkeit in seine Umarmung hinein, als wäre er ein Teil von Lamárs Leib, dazu geschaffen, sich mit ihm zu verbinden. Dieser Gedanke löste eine neuerliche Flut von Schreckensbildern aus, die ihm das genaue Gegenteil zu beweisen schienen – Lys, gefesselt, blutend, leblos; Lys, der sich unter ihm wand, während er, Lamár, ihn zu erwürgen versuchte; Lys, den nackten Körper von Peitschenstriemen und tiefen Schürfwunden zerschunden, der haltlos schrie, während er, Lamár, nach einem Knebel griff …
    Wie konnte das sein? Wie war es möglich, dass dieser Mann, den er doch offenbar mehr als einmal grausam gefoltert und beinahe umgebracht hatte, sich mit solcher Verzweiflung an ihn klammerte? Waren es Trugbilder statt Erinnerungen? Wenn ja, konnte er dann überhaupt darauf vertrauen, dass er noch echte Erinnerungen an sein altes Leben besaß? Lamár zweifelte an seinem Verstand, seiner Wahrnehmung, an all dem bisschen Selbstvertrauen, das er sich so mühsam in den letzten Wochen

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