Die Saat - Ray, F: Saat
nicht.
Sie folgt ihm ins Arbeitszimmer, wo er aus der Schreibtischschublade seinen Vorrat an Bargeld nimmt. Fünfhundert Euro in Fünfzigern. Er steckt alles in die Innentasche seines Cordjacketts. Für eine kurze Sekunde erinnert er sich an die Tage, Jahr für Jahr, als er da am Schreibtisch vor seinem Computer saß und seine Bücher schrieb. Ein Sommer, wie lange ist das schon her? Ein ganzes Leben.
Ein schriller Schrei unterbricht jäh seine Gedanken, er dreht sich um, sieht, wie Vernets Körper von einem Arm in den Flur geschleudert wird. Nur einen Moment später trifft ihn eine Faust mitten auf die Brust, nimmt ihm die Luft, stoppt den Herzschlag, schleudert seinen Kopf zuerst zurück, dann nach vorn. Der zweite Schlag bricht ihm fast die Rippen, er geht zu Boden, der Fuß holt aus, Ethan weiß, gleich wird er seine Nase, seine Schläfen zertrümmern, seinen Kopf mit solcher Wucht nach hinten treten, dass sein Genick brechen wird. Ein Atemzug bleibt ihm noch, ein Funke, der ihn am Leben halten will, der die letzten Reserven mobilisiert, er reißt den Kopf zur Seite, der Tritt geht ins Leere, der Angreifer stürzt, knallt auf den Boden, Ethan zerrt die Waffe aus dem Hosenbund, entsichert, zielt, drückt ab.
Die Explosion ist lauter, viel lauter, als er erwartet hat, und katapultiert ihn in eine andere, in eine stumme, stille Welt des Horrors.
Wie eine Fontäne spritzt Blut aus dem Kopf, der Körper sackt nach hinten, der Kopf prallt gegen die Wand, knickt zur Seite, langsam, unendlich langsam, kommt es ihm vor, rutscht er nach unten und hinterlässt eine blutige Spur an der weißen Wand.
Wie eingefroren. Keine Bewegung. Kein Ton.
»Mein Gott …«, hört er schließlich eine Stimme flüstern, dann fällt sein Blick auf Camille, wie sie steif und langsam aufsteht, die Augen aufgerissen, im Mund ein stummerSchrei. Sie hat alles mit angesehen, realisiert er. Beinahe wäre sie das nächste Opfer gewesen. Blass und zitternd sucht sie an der Kommode Halt.
Er kennt den Mann, das viereckige Gesicht, die breite Nase, das dunkelblonde Haar. An die Farbe der Augen erinnert er sich nicht mehr, aber diese hier sind braun, und sie starren ins Leere. Diesmal trägt er keinen weißen Arztkittel, sondern einen dunkelblauen Anorak, eine dunkelblaue Hose, dazu schwarze Reebok-Sneakers. Ein Bankangestellter oder ein Angestellter der U-Bahn, könnte man meinen, verheiratet, zwei Kinder – nein, so stellt man sich keinen Killer vor.
Etwas Schweres zieht seine Hand nach unten. Die Pistole, er hat sie vergessen. Er will sie fallen lassen, doch seine Hand weigert sich, krallt sich am harten Metall fest, will es nie wieder loslassen.
»Er muss über die Terrasse hereingekommen sein«, sagt er und begreift gleichzeitig, wie bedeutungslos diese Feststellung geworden ist. Dennoch, die eigene Stimme zu hören, bringt ihn zurück, seine Hand gibt den Widerstand endlich auf, er steckt die SIG Sauer zurück in den Hosenbund.
Sie nickt nur. Ihr entsetzter Blick wandert zur Wand mit dem grausigen Geschmiere und dem Toten. Er hat einfach abgedrückt. Die Kugel hat den Brustkorb gestreift und ist von unten in den Kopf gedrungen, hat sich durch die dünnen Knochenlamellen der Stirnhöhle oder des Rachenraums gefräst und sich dann in der weißgrauen Masse des Gehirns versenkt.
Ethan reißt sich los, rappelt sich auf. Sein Brustkorb ist ein einziger Schmerz bei jedem Atemzug, der Kopf gehört nicht mehr zu seinem Körper.
»Machen wir, dass wir wegkommen«, bringt er mühsam hervor, fährt sich über den Mund, sieht das Blut auf seinem Handrücken, doch die Zähne sind noch alle drin. Sieh nach, wer das ist, befiehlt ihm seine innere Stimme, und er greiftin die Taschen des Anoraks. Rechts ist nichts. Aber links. Ein Handy und ein Führerschein.
Goran Zefarović
Crna Gora/ Црна Гора
Montenegro
Montenegro. Korruption, Waffen-, Zigaretten-, Menschenschmuggel – und Auftragsmorde der Mafia. Morde an regierungskritischen Journalisten, an Polizeifunktionären, an Untersuchungsbeamten, all das hat sein Gehirn im Laufe der Jahre gespeichert.
»Worauf warten Sie?« Er wischt den Führerschein ab, schiebt ihn zurück, steckt das Handy ein und wirft sich die Tasche über die Schulter.
Sie hat sich noch immer nicht von der Stelle bewegt.
»Aber wir können ihn doch nicht so liegen …«, stammelt sie.
Da greift er ihre Hand, zieht sie mit sich.
Der Aufzug gleitet hinunter, Stockwerk um Stockwerk, immer weiter weg von seinem alten
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