Die Saat - Ray, F: Saat
hat sie sich nicht gemeldet. Und wenn ihm etwas passiert ist?
Plötzlich hat er an Aamu denken müssen. Er ist ein miserabler Menschenkenner. Er hat ihr geglaubt, hat ihr alles abgenommen. Erst die besorgte und hilfsbereite Medizinstudentin, dann die junge Frau, die ein Opfer furchtbarer Familienverhältnisse ist, und zuletzt – zuletzt die Verliebte, unglücklich Verliebte, oder wenn nicht die Verliebte, dann die Schutzsuchende.
Und was ist mit Camille Vernet? Auch sie verfolgt ihre Ziele. Sie ist ehrgeizig. Sie will die Verkaufszahlen pushen, will vielleicht berühmt werden. Gefürchtet – und reich. Deshalb ist sie an seiner Geschichte interessiert. Und wenn etwas anderes interessanter zu werden verspricht, dann … Wie loyal ist sie? Er weiß doch gar nichts von ihr.
Er zieht Pulli, Schuhe, Socken, Hose aus und legt sich mit den beiden karierten Fleece-Decken und der Pistole unter dem Kopfkissen auf die Couch. Sie ist ein wenig zu kurz für ihn, aber was spielt das schon für eine Rolle. Er ist erschöpft genug, um selbst im Sitzen einschlafen zu können. Im Badezimmer hört er das Wasser laufen, dann ihre Schritte, nackte Füße auf dem Dielenboden. Er wartet auf das Geräusch, wenn sich die Schlafzimmertür schließt, doch stattdessen hört er das Knistern von Stoff. Von ihrem Morgenmantel vielleicht, den sie auszieht, oder von der Bettdecke, die siezurückschlägt. Er versucht, sich Sylvie dort im Schlafzimmer vorzustellen, und tatsächlich fühlt er sich für einen Moment getröstet, doch dann schreit ihn die Wahrheit mit schriller Stimme an: Sylvie ist tot!
5 Freitag, 4. April
Bali
Vor der Buddha-Statue brennt wie jeden Morgen ein Räucherstäbchen, eine Schale Reis mit roten und gelben Blüten steht davor. In den Bäumen zwitschern Vögel, und letzte Nacht hat er den Fröschen im Teich zugehört. Nicolas atmet tief, dann reißt er sich los, hängt seine Louis-Vuitton-Reisetasche über die Schulter und geht über die Terrasse und den schmalen Pfad zur Rezeption. Pierre wollte ihm ein Taxi bestellen.
Kim kommt ihm hinter der Theke entgegen, sie trägt einen goldbraunen Sarong, das Baby schläft in einem Tuch auf ihrem Rücken.
»Guten Morgen, Nicolas«, sagt sie mit ihrer sanften Stimme. »Warum gehst du? Wolltest du nicht für immer bleiben?«
»Ich komme wieder.« Und in diesem Moment glaubt er sogar daran.
Sie lächelt immer noch und nickt ihm zu. »Mögen die Götter dich beschützen.«
Als er sie umarmt, spürt er ihren filigranen Körper, nimmt ihren Duft nach Blüten wahr. Er tut es für sie. Wie gern würde er es ihr sagen. Er brennt danach. Ihr seine Liebe zu gestehen. Nicht dieses körperliche Begehren, wie er es bei Männern empfindet. Nein, diese reine, ewige Liebe …
»Du hättest bleiben können.« Pierres Stimme reißt ihn aus dem Zauber.
»Ich weiß, aber es ist besser so.«
Pierre zuckt mit den Schultern. »Wenn du meinst. Aber so ganz hab ich nicht verstanden, warum du abreist.«
»Geschäftliches. Ich melde mich. Ganz bestimmt.« Kurz umarmt er Pierre, und er kommt nicht dagegen an, Kim noch einmal in die Augen zu sehen. Dann steigt er in das wartende Taxi. Sein Flug nach Genf geht in zweieinhalb Stunden.
Zwei Millionen Euro für den Memorystick. Sie haben zugestimmt. Für einen Konzern wie Edenvalley sind zwei Millionen nichts. Eine Million kann Kim das Leben retten. Die andere nimmt er zum Untertauchen.
Schaukelnd meistert das Taxi die unebene Straße, im Radio läuft Gamelan-Musik. Den Kejak-Tanz hat er gestern Nacht im Tempelhof von Ubud gesehen, und als die wilden Feuer in die schwarze Nacht züngelten und die sich wiederholende Melodie zu einem dramatischen Finale anschwoll, da wusste er, dass es richtig war, Edenvalley diese Mail zu schicken und ihnen den Deal anzubieten. Er hätte es nicht ertragen, Kim beim Sterben zuzusehen, nach all dem, was passiert ist. Zu viel Schuld hat er schon auf sich geladen. Zeit, etwas gutzumachen. Am Straßenrand balancieren Frauen hohe Körbe voller farbenprächtiger Früchte und Blumen auf ihrem Kopf, und hinten, über den Reisfeldern, lassen Kinder und Männer Drachen steigen. Ein hellblauer Himmel wölbt sich über dem Paradies. Zum ersten Mal ist er mit sich im Reinen. Zufrieden.
6
In der Flughafenhalle zwängt sich Nicolas durch die wartende Menge von Einheimischen, Reiseveranstaltern und Touristen und steuert auf den Abflugschalter zu.
Zwei Millionen. Gut. Die Übergabe wird heikel werden. Ein gefährlicher Moment. Aber er
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